Glühende Interpretation
Nicht selten hängt die Bewertung einer Aufnahme oder Aufführung eines bedeutenden Werkes klassischer Musik weniger an deren tatsächlicher Qualität, sondern an den Hörgewohnheiten des Bewertenden. Je bekannter das Werk und je gewachsener die Aufführungstradition, desto beschränkter wird bisweilen der Blick auf das vermeintlich Ungewöhnliche. Seit ihrem Erscheinen in den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts kann man zu der vorliegenden Aufnahme von Edward Elgar 'The Dream of Gerontius' immer wieder lesen, sie sei 'berühmt-berüchtigt', 'idiosynkratisch', in Teilen geradezu exzentrisch, alles in allem eine Kuriosität. Diese Sicht spiegelt, es wird den Leser nicht verwundern, vornehmlich die britische Kritik an dieser Aufnahme wider, gab es andernorts in jenen Jahren ja kaum etwas, das man eine 'Aufführungstradition' des Werkes nennen könnte. Sargent, Barbirolli und Boult hatten bis dato der Welt gezeigt, wie der 'Gerontius' zu spielen sei. Diese Interpretationen waren die Benchmark, so wollte man das Werk hören. No experiments. In dieser Haltung liegt eine mir immer wieder begegnende problematische Beschränkung britischer Musikkritik, wenn es um Musik von der eigenen Scholle geht. Es muss immer alles so sein, wie man es "on the home turf" seit Olims Zeiten gemacht hat. Hörgewohnheiten wollen und müssen bedient werden, Abweichendes kann nicht überzeugend sein. Je mehr Mainstream, desto besser. Versucht man sich aber von dem Ballast des Vorurteils zu lösen und Svetlanovs Einspielung des Werkes so unvoreingenommen wie möglich zu begegnen, dann mag man eventuell konstatieren, dass seine Lesart a) gar nicht so exzentrisch ist und dass es sich b) um eine enorm packende, intensive, leidenschaftliche, ja: glühende Interpretation handelt, die manch eine andere, die ganz traditionell daherkommt ' ich denke da an beispielsweise an Gibson (1976) Rattle (1987) oder Hickox (1988) ' an Ausdrucksstärke weit hinter sich lässt. Das liegt unter anderem daran, dass Svetlanov mit einem anderen Ansatz an das Stück herangeht, es ' ähnlich wie es Sinopoli in seiner kaum fassbaren Interpretation der zweiten Symphonie Elgars tut ' nicht als spezifisch britisches, sondern als Werk der europäischen Spätromantik ausleuchtet und dabei dessen Bezüge zu Wagner, zur Tradition der Grande Opéra, zu Strauss und zur symphonischen Sprache der europäischen Romantik überhaupt offen legt. Das macht die Aufnahme im positivsten Sinne außergewöhnlich, nicht dass hier und da ein Tempo schneller oder langsamer ist als man es üblicherweise kennt.
Tatsächlich finde ich gerade die oft kritisierten Orchesterpassagen (Preludes zu den beiden Teilen) ausgesprochen gelungen. Zudem empfinde ich die gestalterische Leistung des USSR State Symphony Orchestra, das ja mit diesem Idiom nur wenig Erfahrung hatte, rundum hervorragend. Das Prelude zu Part I, für dessen Gestaltung sich Svetlanov 11:09 Minuten Zeit lässt, finde ich auf seine Weise hervorragend. Sicher, Svetlanov blickt zielsicher an der Notation Viertel = 60 vorbei, aber was für eine Atmosphäre! 'Mistico' - das ist es, was Svetlanov hier liest, und das ist es, was er zum Klingen bringt. Sehr schön gelingt zudem das langsame Wogen des Più mosso ' auch hier hört man am ehesten das von Elgar notierte 'con molto espressione'. Immer wieder sind es die auf den Affekt zielenden Vortragsbezeichnungen, die Svetlanov wichtig zu sein scheinen, das 'Appassionato' oder das mit herrlich großer Geste realisierte 'Con grandezza' bei Ziffer 14. Auch das Vorspiel zu Part II nimmt Svetlanov ' wenn man Erbsen zählt ' 'zu langsam'. Aber auch hier geht es ihm offensichtlich um die Verinnerlichung, um das notierte 'Tranquillo', weniger um das 'Andantino'. Voller Intensität und atmosphärischer Dichte gelingen Svetlanov auch die kurze Orchesterüberleitung zum Haus des Gerichtes (Ziffer 72 'Larghetto'), die in ihrer zwielichtig-uneindeutigen Stimmung enorm spannungsvollen Takte vor der Ankündigung des Urteils (Ziffern 101-102) und der in seiner Unerbittlichkeit und gleißenden Härte erschütternde Moment, in dem die Seele Gerontius' Gott schaut (Ziffern 118-120). Wie man sich an diesem Ausdruck intensivster Auseinandersetzung mit Komposition und Thematik stoßen kann, will sich mir nicht erschließen. Rundum erlebe ich Svetlanovs Arbeit an der Partitur auf ihre Weise als höchst überzeugend.
Zu den Solisten.
Arthur Davies, den ich bei Hickox (1988) einigermaßen gesichtslos finde, gefällt mir hier zwar insgesamt besser, aber dennoch spielt er nach meinem Empfinden eher im Mittelfeld der auf Tonträger verfügbaren Interpreten dieser bedeutendsten britischen Tenorpartie vor Peter Grimes. Auf der Haben-Seite ist sicher Davies Stimmmaterial zu verbuchen. Kraftvoll, klar und ohne störende Enge in der Höhe, glänzend im Timbre. Es gibt aber auch eine Downside. Davies ist nicht eben ein subtiler Gestalter. Es stört mich noch nicht einmal so sehr, dass er bis auf ganz wenige Ausnahmen keines der notierten Piani oder Pianissimi singt (beim herrlich gesetzten 'Novissima hora est' klappt's immerhin), sondern einen im Prinzip sehr virilen Sterbenden präsentiert. Es sind auch nicht die zahlreichen Schluchzer und 'coups de glotte'. Es ist die Facettenlosigkeit seiner Textausdeutung, das Fade seiner Interpretation besonders im zweiten Teil, die seine Gesamtdarstellung nach meinem Dafürhalten nicht über das Mittelmaß hinauswachsen lässt. Die Vielfalt der Gemütsregungen des Gerontius bzw. der Seele desselben, die ja seinen gesamten langen Dialog mit dem Engel durchzieht, wird von Davies kaum zum Ausdruck gebracht. Seine Stärke liegt eher im Bereich des Zupackenden, wie seine Wiedergabe der leidenschaftlichen Paradearie 'Sanctus fortis' zeigt. Hier notiert Elgar immer wieder Vortragsbezeichnungen, die zeigen, dass ihm durchaus eine extrovertierte Darstellung vorgeschwebt haben dürfte. So heißt es da immer wieder 'con molto esaltazione', 'agitato', 'risoluto a stringendo molto' oder auch 'disparato'. Es ist jenes Stück im Gesamtzusammenhang, das am unmittelbarsten Elgars Bemerkung, er hätte den Part des Gerontius absichtsvoll mit 'vollblutiger, romantischer ['] Weltlichkeit' gefüllt, in Erinnerung ruft und das am ehesten Bühnenqualität hat. Und hier ist Davies hervorragend. Es ist die Extraversion, die ihm liegt. Die Innenschau liegt ihm nicht. Doch ist es eben die Fähigkeit zu beidem, was einen ausgezeichneten Interpreten dieser Rolle auszeichnet. Davies bringt sie hier (und auch bei Hickox) nicht mit.
Ganz anders Felicity Palmer, die ich für eine ideale Interpretin Elgar'scher Mezzo-Partien halte (speziell ihre Interpretation der 'Sea Pictures' beispielsweise ist in meinen Augen unerreicht). Nicht nur, dass mich auch hier ihre warme, volle, aber nicht dicke, in der Höhe strahlende und im tiefen Register dunkle Stimme sofort für sich einnimmt. Es sind speziell ihre enorm am Text orientierte Darstellung, die geradezu exzeptionelle Arbeit am Text und die Fähigkeit kleinste Ausdrucksnuancen und 'schattierungen vollkommen schlüssig und ungezwungen umzusetzen, die mich immer wieder aufs Neue begeistern. Selten habe ich solche Stellen wie 'A presage falls upon thee as a ray' lichter, die die Dämonen beschreibenden Worte 'Hungry and wild to claim their property' gruseliger, die Ankündigung 'Yes, for one moment thou shalt see thy Lord' ehrfurchtsvoller, 'Thy judgement is near' düsterer oder den Beschluss des Werkes ('Softly and gently') wärmer, gütiger, ja im besten Sinne mütterlicher gehört. Anders ja, überzeugender nicht.
Norman Bailey präsentiert einen würdigen Priester, wobei er sich bei dem 'Profiscere, anima Christiana' zunächst doch etwas zu sehr auf die wotaneske Größe seiner Stimme baut. Da erlebt der Hörer zunächst ein Fortissimo am Rand des Brüllens. Doch schaltet Bailey schnell etwas herunter und versucht diese kleine Partie zumindest etwas zu gestalten. Besser gefällt sein Angel of the Agony, den er mit großer Intensität als schon fast verzweifelt Flehenden präsentiert.
Der London Symphony Chorus wurde von Richard Hickox tadellos einstudiert. Sicher, bisweilen klingen die Chöre etwas mulmig, dies scheint aber im Wesentlichen den Aufnahmebedingungen geschuldet zu sein. Insgesamt wird tadellos gestaltet. Das 'Kyrie/'Holy Mary, pray for him' klingt wunderbar entrückt, die 'Be merciful'-Passage voll zurückhaltender Ehrfurcht. Dem Bittgesang 'Noe from the waters' indes fehlt vielleicht etwas das Ätherische. Packend und voller Klangkraft gelingt das 'Finale' des ersten Teiles 'Go, in the name of Angels and Archangels'. Hier offenbart sich erstmals die gesamte enorme dynamische Bandbreite des großen Ensembles, die wirklich beeindruckend ist. Hat man zunächst das Gefühl von einem regelrechten Sturm der Festlichkeit hinweggefegt zu werden, so säuseln die letzten verklärenden Takte ('May thy dwelling be the Holy Mount of Sion') ätherisch-licht an der Grenze des Unhörbaren. Wie eindrucksvoll mag das wohl dereinst live im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums geklungen haben? Enorm ausdrucksstark gelingt auch der von Svetlanov mit maximalem Biss genommene, ja beinahe gewalttätig daherkommende Dämonenchor. Schlicht exemplarisch gelingt dem LSC die Gestaltung. Nachgerade ätzend werden die Textzeilen 'Each forfeit crown / To psalmdroners, / And canting groaners, / To ev'ry slave, / And pious cheat, /And crawling knave' heraus- und dem Hörer geradezu ins Gesicht gespuckt. Grässlicher kann man das wilde Gelächter der höllischen Kreaturen kaum herausschreien, sinnvoller einer Überzeichnung nicht einsetzen. Der Chorsatz 'Praise to the Holiest', bei dessen Einsatz sich Chor und Orchester schon am Rande des Bombastes bewegen, gelingt in seiner Gänze ebenso wie der sanft-melancholische Schluss.
Insgesamt eine Aufnahme, an der man, wenn man sich für das Werk interessiert, nicht vorbeigehen sollte.
Das Booklet bietet einen lesenswerten Einführungstext von Elena Kuznetsova in russischer, englischer und französischer Sprache. Das Libretto ist nicht enthalten.