Bruckners Neunte mit Finale, vervollständigt von N.S. Josephson
Die Neunte gespielt vom Aarhus Symphony Orchestra unter der Leitung von John Gibbons ist eine solide Aufnahme, sowohl von der Gestaltung des Dirigenten, dem Spiel des Orchesters als auch der Aufnahmetechnik (Danacord) her.
Die Tempi liegen ebenso wie die Ausführung der Dynamik oder das eingesetzte Espressivo im „mittleren Bereich“ und dennoch hat man den Eindruck, dass das Stück vom Dirigenten und en Musikern verinnerlicht ist. Es gibt also durchaus uninspiriertere Einspielungen der Neunten… Natürlich klingt meine Einleitung zu dieser Aufnahme zugegebenermaßen nicht übermäßig begeistert. Das liegt hauptsächlich daran, weil ich das Gefühl habe, dass da mehr drin gewesen wäre, wenn man mehr gewagt hätte, Extreme auszuloten. Aber auf diese Dinge (es gibt wahrlich schon einige wunderbare Einspielungen der Neunten) richtet sich hier nicht das Hauptaugenmerk, denn:
Das besondere dieser Einspielung ist selbstverständlich die auf dem Plattenmarkt (und wohl auch sonst) unbekannte Vervollständigung des Finale-Fragments durch Nors S. Josephson. Der 1942 in Ohio geborene „Professor of Music“ ist ein äußerst vielseitiger Mensch mit starkem Interesse an Grenzwertigem. Er hat neben der Bruckner Neunten auch Khovantchina von Modest Mussorgsky vervollständigt, komponiert selbst (z.B. eine Messe von 2011), schrieb aber auch ein Buch über den Einfluss der archaisch-griechischen Kultur auf die alte Kultur der Osterinseln (!). Das Spekulative und Phantastische scheint diesem kreativen Menschen zu liegen …
Die Auseinandersetzung mit dem Finale trägt seit etwa einer Generation reiche Früchte und seit den 80ziger Jahren sind auch eine Wachsende Zahl von Einspielungen des Finales erschienen:
- Aufnahmen der Fragmente, (ganz oder fast) ohne jegliche Zusätze.
- Die verschiedenen Versionen der Vervollständigung von Samale und mazuca, später mit weiteren Mitarbeitern (Phillips, Cors), deren weitere Ausgaben kurz mit SPCM benannt werden.
- Die Versionen von William Carragan
- Die letzthin vorgelegte Version von Sebastien Letocart
- Kreative „Einarbeitungen“ durch Gottfried von Einem und Peter Jan Marthe
VERVOLLSTÄNDIGUNG VON NORS S. JOSEPHSON
- EIN DETAIL – PARS PRO TOTO
Nun also eine weitere „Vervollständigung“ des Finales durch Josephson in dieser Ersteinspielung. Das hier einiges anders ist als in den „gewohnten“ beiden am meisten gespielten Versionen von „SPCM“ und Carragan, wird schon in der doch scheinbar durch Bruckner gesicherten („fertiggestellten“) Exposition offensichtlich. Wer die letzten SPCM-Versionen kennt, dem fällt auf, dass das absteigend sequenzierte Motiv nicht nur jeweils einmal, sondern zweimal erscheint samt einem Halteakkord. Dem Kenner der Carragan-Version ist das so vertraut. Dieses Beispiel berührt etwas Wesentliches der Vervollständigungsversuche der Musikwissenschaftler und Musiker:
Bruckners fragmentarisches Finale ist in weiten Teilen in mehreren quasi „archäologischen Schichten“ erhalten. Skizzen, Particells und Partiturausführungen in zwei Stufen. Je weiter der Satz voranschreitet, umso dünner scheint das Material zu werden. „Scheint“ deshalb, weil nicht klar ist wie viel Bruckner außer dem vorhandenen Material noch geschrieben hat. Das manche (leider besonders) Partiturbögen fehlen ist offensichtlich, da Bruckners sorgfältige Nummerierungen das belegen. Das System war anfangs nicht leicht zu durchschauen (auch wegen Veränderung der Nummerierung), ist nun aber wohl eindeutig geklärt. Gerade in der Exposition gibt es also drei vier Ebenen, die sich übereinander legen lassen und durch selbstverständlich vorhandene Unterschiede oft eine kluge Entscheidung der Bearbeiter erfordern, welche auch individuell unterschiedlich ausfallen kann – siehe eben diese ersten 12 Takte (früher „Bogen 1eE“ bei SPCM) bzw 20 Takte („Bogen 1dC1“ bei Carragan und Josephson).
Das nur als ein Beispiel, dass für die gesamte Arbeit an dem Finale und die Voraussetzungen dafür stehen soll.
- JOSEPHSONS ARBEIT
Josephson hält sich in großen Teilen bis zur Reprise an die Ausgabe der Bögen, so wie sie 1994 von John A. Phillips beim Musikwissenschaftlichen Verlag der Internationalen Brucknergesellschaft erschienen sind. Das erscheint nur logisch, da die viele Jahre dauernde Arbeit an dem Finale Josephson 1992 abgeschlossen hatte und der Stand der Quellen für beide Arbeiten (von Phillips und Johnson) wohl ziemlich gleich war.
Johnson übernimmt an manchen Stellen mehr aus der Partitur Bruckners, als die Realisierung von SPCM es tut – z.B. die Nebenstimme auf Bogen „3“E Takt 3 bis 8 (bei 1:20 min). Diese Abwärtslinie ist keine „Zutat“ Josephsons, sondern Bruckner. Das ist vielleicht nicht unwichtig zu bemerken, da man das so noch nie gehört hat und nicht jeder die Partiturskizzen kennt und lesen kann … Bei dem kleinen Holzbläsersatz bei 2:42 min, der als Entsprechung zum folgenden Flötensatz gedacht ist, verhält sich das anders: das ist stammt vom Bearbeiter.
Auffällig ist das Mezzopiano im Bläserchoral (5:00 min), das man sonst immer nur als ff-Abschnitt kennt.
Der Beginn der Durchführung bei 6:45 ist ungewohnt. Hier hat Josephson anders auf dem Streichersatz aufgebaut als die anderen Autoren. Ebenso in der Fuge auffällig etwa bei etwa 9:50 min.
Schön ist für den Interessierten, dass mit jeder neuen Bearbeitung immer klarer wird, was Bruckners Anteil ist und was Bearbeiter, vorausgesetzt das Musikalische Gedächtnis funktioniert halbwegs.
Die notwendigen Ergänzungen in der Durchführung gelingen bei Josephson vielleicht weniger spektakulär als bei den anderen beiden bekannten Ergänzungsansätzen (so wird z.B. die von Harnoncourt so betonte Trompetendissonanz entfernt und der starke abreißende Hornruf verhalten genommen), aber die Komposition wirkt so sehr schlüssig. Allein gegen Ende der Durchführung (so ab 14:10 min) gerät doch etwas spannungsarm und passt stilistisch eher ins Umfeld der Vierten Sinfonie. Der Choral (bei 15:14 min) findet in der bekannten Solo-Trompeten-Gestaltung zwar Entsprechung statt, der aber durch das andersartige vormalige erste Erscheinen einen anderen Effekt hat. In der Coda nimmt direkt den Schluss des ersten Satzes auf und baut nochmals den Choral der Finales mit ein. Ein schöner inspirierter Ansatz. Mal keine chaotische Übereinanderschichtung von vielen Themen, wie Bruckner der ersten Teil der Coda angedacht oder vielleicht sogar realisiert hatte. Bei Josephson ein sehr fließender harmonischer Übergang von der Durchführung in die Coda und zum Ende.
Dieser Schluss steht für die ganze höchst respektable Arbeit: Inspiriert, mit guten weiteren Ansätzen und Gedanken zu weiteren Möglichkeiten, kein Zeigefinger, nicht „Absichtsvolles“ – und ein klein wenig harmlos.
„VERWENDUNG“
Ich persönlich bin froh, dass ich diese Version hören mich mit beschäftigen kann. Mich stört dabei auch nicht so sehr, dass das Orchester nicht so stark ist und das etwas brave vielleicht auch mehr vom Dirigenten als der Bearbeitung ausgeht. Was das Finale Bruckners angeht, wird auch nie eine annähernde Authentizität (wie Bruckner es WIRKLICH gemeint haben könnte) hergestellt werden können, es sei denn es tut sich wirklich noch etwas Entscheidendes im Auffinden der geklauten Partitur- oder Particell-Bögen.
Ich sehe die neu zu hörende Finalfassung als weitere Arbeitsversion auf einem wohl endlosen Weg …
Das nicht allzu umfangreiche Textheft ist leider nur in Englisch. Gern hätte ich die interessanten Gedanken auch auf Deutsch gelesen.
Wenn es mal eine noch erfülltere Aufführung auf CD geben sollte, freue ich mich auch fünf Sterne vergeben zu können!
KAUFEMPFEHLUNG
Ja… für … auf jeden Fall Menschen, die wirklich sich mit diesem Finale auseinandersetzen möchten und nicht nur Musik konsumieren. Und natürlich für alle, die auch die verschiedenen anderen Ausgaben kennen. Und für solche, die in den Notenausgaben mitlesen möchten. Für Menschen, denen ein Eindruck reicht, um mal einen Einblick in Bruckners Welt des Finales der Neunten zu bekommen, sei das Werkstattkonzert mit Harnoncourt empfohlen und Wunsch auf satten Klang – mit kleinen Abstrichen bis mittleren – die CD-Aufnahme der SPCM-Version mit Rattle/BPO bei Warner/EMI, etwas „Geistiger“ (aber dünner) bei Wildner oder auch Eichhorn.
- - - - -
Über ein Feedback (Bewertung JA oder NEIN, Kommentar - wie und welcher Art entscheiden natürlich SIE!) zu meinen Bemühungen des Rezensierens würde ich mich freuen! Lesen Sie gern auch andere meiner weit über 200 Klassik-Besprechungen mit Schwerpunkt "romantische Orchestermusik" (viel Bruckner und Mahler), "wenig bekannte nationale Komponisten" (z.B. aus Skandinavien), "historische Aufnahmen" und immer wieder Interpretationsvergleiche und für den Kenner bzw. Interessierten meist Anmerkungen zum Remastering