Ein Wunder . . .
. . . anders kann ich diese Veröffentlichung nicht bezeichnen. Ja - es ist die wichtigste Veröffentlichung an live-Aufnahmen mit Otto Klemperer, die komplett die Sicht auf diesen Dirgenten verändern wird! Und auch für immer die Sicht auf bestimmte Musikstücke: Janacek Sinfonietta, Bartok Violakonzert, das Finale der Beethoven 5ten und und und... Eine Box für die musikalische Ewigkeit.
Zuerst einmal herzlichsten Dank an VM, der in seiner Rezension bei Amazon folgendes geschrieben hat - was ich hier in Gänze zitieren möchte:
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Gibt es einen 6.Stern?
Das Maß der Dinge. Wer und wo auch immer für das Mastering historischer Aufnahmen zuständig ist, sollte auf den Knien zu dieser Quelle pilgern; ich habe so etwas noch nie gehört. Der Funken, der aus diesen alten Bändern schlägt, ist elektrisierend, und nirgendwo kommt je das Gefühl auf, einer digitalen Fälschung aufzusitzen. Die Atmosphäre ist außerordentlich präsent, der Transport zurück ins Concertgebouw vor 70 Jahren ist ein wahres Hexenstück. Und Klemperer im Concertgebouw, live, dazu muss wohl nichts gesagt werden. Diese kleine Schachtel wird sich als die wichtigste Veröffentlichung historischer Aufnahmen des Jahrzehnts entpuppen, und es wäre schade, wenn was hier erreicht wurde ein kleiner Funken im lieblos gemasterten Massenbetrieb bliebe, statt zu zünden. Unbedingt kaufen, besonders wenn mit der strengen Limitation wirklich ernst gemacht wird.
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Damit hat er mich neugierig gemacht und absolut nichts(!) von seinen Worten halte ich für übertrieben! Das ist im Kern das Wesentliche - und nur in ein paar "Kleinigkeiten" zu ergänzen:
Der Diplom-Tonmeister (da muss ich schmunzeln) Boris-Alexander Bolles hat einen kleinen Text zum Mastering geschrieben, aber es ist nicht klar ob er allein oder wer auch sonst noch die wundervoll gelungene Arbeit zu verantworten hat.
Ja - das Text-BUCH ... 73 Seiten auf Deutsch (ansonsten noch in Englisch und Japanisch). Was für anregende verschiedene Texte. Die Tochter Lotte Klemperer (1923-2003) war ja dem Label Archiphon verbunden und das spiegelt sich hier in den Texten wider ... duzende überraschende und auch geheimnisvolle Fotos - vielleicht auch deshalb geheimnisvoll, weil manche so klein sind ;-)
Hier ist wirklich Informatives zu lesen. Es ist im Grunde kein Textheft für CDs, sondern ein echtes eigenständiges Buch! Das möchte ich betonen - großartig und auch irgendwie witzig und querständig! Passt ja zu Klemperer ... Eine kleines Manko ist vielleicht, dass die genauen Quellen und das Remastering nicht näher angeführt sind. Aber vielleicht gibt es dafür ja (rechtliche?) Gründe oder Absprachen ...
Die meisten der Aufnahmen sind anscheinend privat als Mitschnitte von Rundfunkübertragungen (dieser hat die Konzerte nicht archiviert!) entstanden - auf einem kleinen Koffertonbandgerät mit langsamer Abspielgeschwindigkeit (9,5 cm/sec). Das ist eigentlich nicht zu glauben, wenn man die SACDs hier anhört. Die Störungsfreiheit - ohne die Artefakte, die oft daraus erfolgen. Die erstaunlich freien schönen Bässe. Sogar in den Höhen einigermaßen ein Leuchten - außer vielleicht manchmal in sehr leisen Stellen, aber in diesem Punkt durchaus so manchen normal gefilterten Neuaufnahmen ebenbürtig. Natürlich haben die Höhen oftmals nicht die Klarheit und Stabilität wie bei neuen Produktionen oder bei Masterings von Masterbändern (die hier ja zumeist nicht vorhanden waren). Das bewegt sich aber in einem so marginalen Bereich, dass es viele Zuhörer gar nicht wahrnehmen werden. Am ehesten hört man es hie und da in den hohen Streichern als leichtes inkonsistentes unruhiges "Grieseln". Wie gesagt - es stört nicht und ich erwähne es nur, damit wirklich ALLES Wahrnehmbare angesprochen ist ... ;-). Dann ist da der erstaunlich klar eingefangene Raumklang des Concertgebouw. Im Grunde klingt mit minimalen Abstrichen alles wie Aufnahme-Produktionen einer (guten!) Schallplattenfirma auf dem damaligen Stand der Zeit - wenn nicht sogar besser. Vielleicht ist DAS im Text entscheidend: neben neuerster intelligent und musikalisch eingesetzter neuester Technik "akribische Handarbeit" und "ständige Hörvergleiche". Hier ist tatsächlich ein Maßstab für jegliches Remastering gesetzt. Das kann nicht laut genug ausgesprochen und möglichst weit verbreitet werden! Ich muss ergänzen, dass ich die Aufnahmen derzeit nur als CD, nicht SACD hören konnte. Aber wenn das schon auf CD so phantastisch klingt ...
Dann: Die durchwegs vorhandene und so stark präsente Klangschönheit des Orchesters (Streicherklang! Farbigkeit des Holzes! Sicherheit, Stabilität und Strahlkraft des Blechs!). Ich kenne so viel Hundert Aufnahmen mit dem (Royal) Concertgebouw Orkest Amsterdam, aber kaum habe ich dieses phantastische Orchester so klangschön spielen hören und das auch physisch sinnlich erfüllt auf der Aufnahme (weil sie eben technisch meist so exzellent sind!) transportiert erlebt wie in diesen Live-Aufnahmen! Diese Lebendigkeit der Aufführungen, die den Hörer anspringt. Klemperers unglaubliche Modernität in der Klangrede (im erweiterten Sinne). Für mich TUT er das, von dem Harnoncourt SPRICHT ...
Hören sie nur mal das (unglaublich schnelle - 12:50 min - und doch so stimmige!) Adagio der Bruckner 6ten (vielleicht ja nach Klemperers eigener zuvor aufgeführter 1ter Sinfonie - was für Parallelen in der unsteten Sprache der Komposition!) oder die Missa Solemnis (mit einer unglaublich intensiven Schwarzkopf!) an. Klemperers agogische Freiheiten sind generell groß und überzeugend. Und je freier und "verrückter" die Aussagen und Ausbrüche sind, desto sauberer ist das Zusammenspiel (ganz im Gegensatz zu den Wackeleien bei den manchmal statischen EMI-Aufnahmen). Die Tempi sind - gemessen am Gewohnten - generell eher schneller als langsamer.
Es gibt einen fast kompletter Beethoven Sinfonien-Zyklus (außer der 1ten), ein Sommernachtstraum, Hindemith, Strawinsky, Bach, Mahlers 2te und 4te und "Lieder eines fahrenden Gesellen" (Schey!) und "Kindertotenlieder" (Ferrier!) und und und ...
Die im Buch immer wieder zitierte Lotte Klemperer sagte, dass "dieser späte Schallplattenruhm von OK irgendwie ein Irrtum" ist. Wie recht sie hat - und wenn sie diese Konzerte hier hören, werden auch sie dem nur zustimmen. Klemperer hat Schallplatten für den finanziellen Lebensunterhalt (besonders den seiner Tochter) produziert. Das er "live" anders war ist hier überdeutlichst(!) zu hören. Bei aller Wertschätzung der Kölner oder anderer Live-Aufnahmen (abgesehen vielleicht von ein paar Konzerten mit dem Philharmonia), von denen es ja mittlerweile einige in sehr guter Klangqualität gibt: Im Concertgebouw mit dem Concertgebouw und den Rundfunktechnikern ist vielleicht das klanglich Schönste und Erfüllteste mit OK entstanden. Der seelisch geplagte Dirigent hat sich in Amsterdam und in und mit dem Concertgebouw hörbar wohl und angenommen und aufgehoben gefühlt. Er fühlte sich in seiner Probenarbeit ganz und gar akzeptiert - und schenkte in seiner Liebe und dem Verständnis der Werke den Hörern wohl das Beglückendste. Hören sie einfach mal das Sanctus der Missa Solemnis - da ist alles "gesagt"!
VM schrieb in seiner oben zitierten Rezension "das Maß aller Dinge" und meinte damit dort das unglaubliche Remastering. Ich möchte diesen Ausdruck gern auf das Ganze beziehen - das Textbuch, die Ernsthaftigkeit dieses Projektes, und ganz besonders auf die Leistung des Concertgebouw Orkest und über allem dem, der durch seine Liebe und Verständnis und Vision der Musik das alles wahr hat werden lassen: OTTO KLEMPERER !!!
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ZU DEN AUFNAHMEN IM DETAIL (ich beschränke mich auf ca. die hälfte der Aufnahmen. Wer weiß, wieviel von meinem Text hier bei JPC eingestellt wird:
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Mahler "Lieder eines fahrenden Gesellen" mit dem Bariton Herman Schey (4.12.1947). Was für eine natürliche männliche Stimme und wie erfühlt die Texte gesungen sind. Der ganz kleine stimmliche Bruch bei der Stelle "schöne Welt" des zweiten Liedes ist sicher keine Absicht, aber so passend, dass es einen schmerzt und die Worte im Hals stecken bleiben. Dieses völlig ungekünstelte Erleben des Sängers ohne stimmliche Tricks und Psychologisiererei ist einmalige Erfahrung unter den Aufführung dieses Liederzyklus. Klemperer dient mit aller Phantasie und Demut dem Werk, das Concertgebouw spielt wunderbar. Die Aufnahme ist gut, der Sänger sehr präsent. Der Klang ist etwas dumpf, aber nur im dichten Stimmengewirr wenig der Feinheiten nehmend und auch ohne störende Oberflächengeräusche des Tonträgers (wie bei der Bruckner 4ten).
Bruckner 4te (4.12.1947). Mit Abstand(!) die schlechteste der Originalquellen - oder besser: eigentlich die einzige schlechte ... Es ist der einzige Transfer, bei dem vielleicht ein längerer Vergleich mit der Quelle von VARA (in der ersten RCO-BOX oder identisch der 152 CD RCO Box) erhellend sein könnte. Aber nicht weil der Transfer hier mangelhaft wäre, er ist perfekt! Nur die Quelle ist halt mangelhaft und da kann der ebenfalls gute VARA-Transfer die eine oder andere Stelle in anderem Licht beleuchten ...
Aber was für eine Aufführung - in der (völlig angemessenen) phantasievollen mutigen Freiheit und dem Ungestüm wohl unüberbietbar! Es klingt seltsam, aber es hat einen besonderen Reiz manches in seiner Dimension und Klarheit in dieser Aufführung nur erahnen zu können. Somit ist es auch eine Aufführung zum inneren Ergänzen (für den, der die 4te gut kennt) und zum Träumen anhand dessen, was klar hörbar ist. Es gibt Stellen, da dachte ich "diese Urgewalt der Klänge kann doch nur das CSO erzeugen" - z.B. im Finale ... Wie bei der Sinfonietta von Janacek treibt Klemperer die Freiheit im Vortrag (rein im Dienst der "Geschichte"!) auf die Spitze - und das Orchester folgt ihm überall hin in hellster Glut und Leidenschaft.
Beethoven 8te (1.5.1949). Jaja - das ist Klemperer, nicht Scherchen oder Leibowitz ;-) ... Wie ein Unwetter fahren die ersten rhythmischen Akkorde in den endenden Begrüßungsapplaus. Bei allem Zug und Drang bleibt der Kopfsatz immer tänzerisch. Trotz stärkster synkopischer Akzente (steht so in der Partitur!) wird nie etwas groß oder dick. Alles unerwartete (wohl kalkulierte und kontrollierte) Nadelstiche ... Das Concertgebouw in Höchstform (Hörner!). Der "Metronomsatz" sehr schnell, pointiert und genau. Alle messerscharf herausgearbeitet - alle Dynamik und Rhythmik wie unter den Lupe. Wie bei vielen vielen anderen der Live-Aufführungen mit dem Concertgebouw Orkest hier hätte ich nie im Leben gedacht, dass da Klemperer am Pult steht. Im Tempo di menuetto starker Zug nach vorne und dennoch bleibt die eigentümliche Gemütlichkeit und der haydnsche Witz mit den Trompetenfanfaren erhalten. Wunderbar sichere und träumerische Hörner im Trio. Ohne Atemholen gleich das abschließende Allegro vivace. Klemperer lässt nie die Zügel locker und gibt dem Finale eine schier manische Unerbittlichkeit. Die dramatische Steigerung gegen Ende - auch hier gehen die Akzente nicht unter und die Linie nicht verloren. Dennoch wird nichts starr oder hart oder grob. Ach ja: Scherchen Studio-Achte wirkt dagegen sehr brav und abgezirkelt, Leibowitz deutlich interessanter (wohl auch ob der phantastischen Aufnahme) aber auch nicht packender ... Eine großartige Live-Aufführung von Klemperer, sehr guter Klang - für 1949 phantastisch! Anfangs minimal belegt, hie und da leichte Oberflächengeräusche, die aber nicht wirklich stören.
Janacek Sinfonietta (11.1.1951). Es gibt ein gutes Foto des alten Janacek zusammen mit dem 41jährigen Klemperer von 1926. Klemperer war von Janacek überzeugt und hat öfters dessen Opern auf die Bühne gebracht - als letzte Produktion vor der Schließung der Kroll Oper 1931 (ein Einknicken vor dem zunehmenden Nazi-Terror) "Aus einem Totenhaus". Die Sinfonietta hat hier so gar nichts festlich gemütlich Volkstümliches: Dumpf, mystisch, schrill, phantastisch, oft mahlerisch, böse, äußerst expressiv und intensiv, virtuos im Orchesterspiel. Klemperer wagt wieder (wie in diesen live-Aufnahmen so oft) das Äußerste an flexibler Agogik und Freiheit - mit grandiosem Ergebnis im Zusammenspiel. Was für eine Welt sich da im langsamen mittleren Satz entfaltet. Was für ein erfülltes Posaunensolo und eine ganz andere Bedeutung der darauf folgenden Trompetenfanfaren. Auch der vierte Satz mit männlicher Kraft und Strenge. Der letzte Satz unglaublich in den irrwitzigen Streicherfiguren des Anfangs, was für ein Posaunensatz. Die durchdringend schreienden Klarinettenklänge mit den verrückten Streichern und dem tiefen Posaunen vor dem Übergang in den Anfang, wenn die Titanen schreiten und tanzen und delirieren. Ein großes Drama - durchaus bühnenwürdig ... Alles für mich so noch nie gehört - und ich liebe das Stück sehr und kenne es durch große Aufnahmen sehr gut. Unglaublich was Otto Klemperer und das Concertgebouw Orkest hier vollbringen! Diese Aufführung ist für mich ein Gegenentwurf zu allem anderen, was ich jemals bezüglich Sinfonietta gehört habe. Wie unglaublich mutig, wie unglaublich feurig und erfüllt und wie unglaublich wichtig um Janacek zu verstehen und zu fühlen! Für 1951 live ein perfekter Klang und eine deutliche Verbesserung der ersten CD-Ausgabe von Archiphon.
Bartok Bratschenkonzert mit dem Solisten William Primrose (11.1.1951). Primrose konnte sehr "unterschiedlich" sein - nicht umsonst sagte Toscanini angesichts einer Aufführung von Berlioz „Harold“ mit Koussewitsky "armer Primose - mit mir muss er das Stück RICHTIG spielen" ... ;-)
HIER jedenfalls spielt Primrose den Bartok "richtig" - UND WIE! Wohl unerreichbar ... und je mehr Klemperer ich höre (ich habe von hinten angefangen), desto mehr denke ich: Er konnte wirklich ALLE - mit aller Hingabe, allem Verständnis der Werke und allem Zugriff auf das Orchester ...
Ausgezeichneter Klang, im Grunde Studioqualität.
IM HÖRVERGLEICH die offizielle Ausgabe des RCO (große 152 CD "Radio Legacy Box"):
Archiphon konnte tatsächlich diesen von vorne herein so gut klingenden Mittschnitt tatsächlich nochmals um viele Jahre "verjüngen", ohne ihm irgendetwas an Musikalität, Intensität oder Präsenz wegzunehmen.
Hans Henkemans, Konzert für Flöte und Orchester mit dem Solisten Hubert Barwahser (13.1.1951). Klemperer war die längste Zeit seiner Karriere Anwalt, Verfechter und Dirigent neuer Musik, was angesichts seiner Schallplattenkarriere bei EMI völlig untergeht. Henkemans war Komponist und Pianist. Zu hören mit Debussy Klavierstücken (Decca 4 CDs) und als Arrangeur auch hochinteressant seine Orchestrierungen von Debussy Preludes! Sein Flötenkonzert hat konstruktive, aber auch impressionistische Züge Ich denke an Ibert, aber im wundervoll stimmungsvollen Mittelsatz auch an Florent Schmitt. Flötenkonzerte empfinde ich oftmals als langweilig blutleer oder sinnlos virtuos oder einfach zum Instrument unpassend oder schlecht in der Begleitung instrumentiert. Das Konzert ist eine echte Bereicherung des Repertoires, die Interpretation des Flötisten wohl unüberbietbar und das Zusammenspiel mit dem Concertgebouw traumwandlerisch, ebenso Klemperers Gespür für diese Musik. Der Klang verrät ein wenig das Alter der Aufnahme, aber keineswegs störend. Im Grunde ergibt sich kein Abfall zu den anderen Aufnahmen.
Mozart 25te "große g-moll" Sinfonie (18.1.1951). Alle Aufführungen (auch die offiziellen Schallplatten) der "großen g-moll" spüren bei Klemperer Funken. Hier wirbelt im Kopfsatz (5:30 Min Drama) allerdings diese Funken (eines lodernden Feuers!) noch ein Sturmwind durcheinander. Auch das Andante will nicht wirklich Ruhe bringen. Die Musik hat etwas von einer Studie - irgendwie lässt CPE Bach grüßen ... Bei allem Tempi und moll ist das Menuetto dennoch auch tänzerisch elegant - für mich ein Unterschied zu den Studioproduktionen ... was das für ein vertracktes Trio ist, wird hier deutlich ... das finale Allegro huscht mit wenig Aufhellungen und trügerischen schubertschen Unbekümmertheiten wie ein Spuk vorbei. Für 1951 ein sehr guter Klang.
Mozart 5tes Violinkonzert mit dem Solisten Jan Bresser (18.1.1951). Ein phantasievoller "ehrlicher" Geiger ohne Mätzchen mit Gespür für das Werk und schönem vollen Ton. Differenziert und auch mal raffiniert. Auch hier "begleiten" Klemperer und das Concertgebouw völlig im Einklang. "Begleiten" in Anführungszeichen, weil das Orchester in echtem Dialog viel an Stimmung, Farbe und Gedanken bereicherndes beisteuert. Der Klang der Aufnahme ist sehr gut.
De Falla "Nächte in spanischen Gärten" mit dem Pianisten Willem Andriessen (29.3.1951). Der Komponist und Pianist stammt aus einer großen Musikerfamilie. Louis, der Sohn seines Bruder Hendrik, ist gerade vor ein paar Tagen verstorben. De Falla als große Musik - sowohl was den Ansatz des Pianisten als auch Otto Klemperers angeht. Stimmungsvoll, mit viel Flair und Duft, aber auch dramatisch, durchaus auch "spanisch". Aber eben nicht sosehr mit dem Augenmerk auf die Virtuosität dieses anspruchsvollen Konzerts, sondern mehr auf dessen musikalischen Gehalt. Eine ganz tolle Alternative zu allen guten Einspielungen - und da gibt es ja einige!
Im Klang ganz ähnlich wie das Henkemans Flötenkonzert.
Beethoven "Ah, perfido!" mit der Sopranistin Gré Brouwenstijn(26.4.1951). Was für eine starke, reiche und modulationsfähige Stimme. Dunkle Farbe bei obertonreicher Klarheit. Eine ganz und gar tragfähige Stimme mit einem großes leuchtenden Forte. Wo anderer oben "zumachen", geht bei Brouwenstijn der Klang erst auf ... Eine Einheit mit Klemperers Begleitung, das Concertgebouw wieder einmal mehr in Höchstform. Eine ganz wunderbare erfüllte Aufführung!
Beethoven 7te (26.4.1951). In allen Sätzen schneller als die Aufführung von 1956 und auch die Studio-Produktion von 1955. Das zeigt sich gleich in der vorwärtsdrängenden Einleitung. Dann eine magische Stelle im Flöten-Übergang ins Vivace, dem Klemperer besonders deutlich unterschiedliche Charaktere der Thementeile herausarbeitet - mit harten Akzenten und manchmal kurzzeitig insistierenden Tempoverbreiterungen. Genial umgesetzt die Stelle, in denen das Orchester quasi in zwei Geschwindigkeiten gleichzeitig(!) spielt. Das habe ich noch nie so klar gehört! Es wird schnell deutlich, dass nicht wie 1956 das apollinisch tänzerische im Vordergrund steht, sondern eher das Psychogramm eines manisch Getriebenen. Das nur so als möglichen Gedanken - vielleicht aus Klemperers eigener Biographie inspiriert ...
Auch das Allegretto ist hier mehr Klage - aber wieder wie notiert im 2/8tel Takt, nicht im breiten Trauermarsch 4/8tel Takt. Dass hier wie im zweiten Satz der Eroica getrauert und geklagt wird und das unvermittelte "Fidelio-Dur" eine Vision darstellt, die aber sich wieder verdüstert ist dennoch nicht zu überhören. Ernst-feierliche Trompeten und Pauken. Auch das Fugato erinnert an das des Trauermarschs in der Eroica samt dem schmerzerfüllten anklagenden Schrei (in der 7ten ist es ja eher ein "es geht unerbittlich weiter so") und dem Zerfasern und Verlöschen am Ende. Unscheinbarer als in der Dritten, aber dennoch ergreifend.
Für mich ist das eine Erfüllung, denn ich habe den Trauermarsch der Eroica und das Allegretto der Siebten immer als Geschwisterpaar gesehen. Nur wurde das im INHALT (wenn so gesehen) nie im 2/4tel, sondern nur im 4/8tel Takt umgesetzt. Im dritten Satz ein unvereinbarer(!) Kontrast zwischen dem kriegerischen Vorwärtsdrängen des Hauptteils und dem extrem verträumten und dem Visionären Ausblick im Trio. Was für ein tiefes Horn in den Takten beim Crescendo, was für ein Verstummen der Musik vor dem Widereintritt des Anfangs. Klemperer erzählt in der Siebten wieder eine Geschichte der Seele. Auch diese hier in der Box so oft zu hörende Fähigkeit, die ergreift und die Phantasie beflügelt, war mir völlig neu an dem Dirigenten. Keine Pause hin zum hart marschartigen kriegerischen Beginn des Finales mit Kanonendonner. Auch dieser Satz ist ein ganzes Drama in sich. Es ist vielleicht ein sieghafter und martialischerer Satz wie das Finale der Fünften. Und da tut Klemperer nichts dazu, denn in der Musik ist das - recht gelesen und gespürt - tatsächlich alles drin!
Ein Gedanke zu diesem überraschenden (vielleicht ja nur von mir subjektiv so empfundenen) Inhalt:
1811, also im Jahr der Entstehung der 7ten, meldete Österreich als Folge der Kriege mit Napoleon den Staatsbankrott an - mit weitreichenden Folgen für die zivile Bevölkerung. Liegt es so fern, die Siebte letztlich auch als eine Vision von Sieg und Auferstehung zu sehen? Und zu der Betonung von Tanzrhythmen: Der "tanzende Wiener Kongress" war nur noch zwei drei Jahre entfernt und Wien hat sich anscheinend doch sehr national über diese freieren bürgerlichen Neuerungen im Lebensgefühl definiert. Aber zurück zur 7ten mit Klemperer:
Hat man je einen größeren Unterschied ein und desselben Dirigenten im Interpretationsansatz eines Werkes gehört als hier bei der Beethoven Siebten von 1951 und 1956? Die 1951ziger Aufführung möchte ich keinesfalls missen, auch wenn der 1956iger Mitschnitt vielleicht abgeklärter und „allgemeingültiger“ ist.
Mozart Maurerische Trauermusik (12.7.1951). Klemperer war ein Romantiker (nein, die vielschichtige Bedeutung des Wortes werde ich hier nicht mal anreißen), aber für seine Zeit absolut "modern" im Sinne der Aufführungspraxis und des Interpretationsansatzes. Und genau durch diese scheinbar widersprüchliche Mischung ist dieses kleine Juwel Mozarts so bewegend gelungen! Der Klang des Transfers ist für 1951 sehr gut.
Mahler "Kindertotenlieder" mit der Altistin Kathleen Ferrier (12.7.1951). Die Ferrier singt hier schlicht und ganz ohne "Stimmabdunklungen". Und genau das macht die Aufführung sehr berührend. Sie ist hier auch im Vollbesitz ihrer stimmlichen Möglichkeiten. Auch Klemperer und das Concertgebouw (traumhafte Orchesterleistung) bleiben in einem schlichten, so wahrhaftigen Ton, dem es aber dennoch nichts fehlt - auch und gerade in der Schönheit. Ein ergreifendes Herzzerreißendes Erlebnis, auch in der (unbewussten?) dramatischen Gestaltung der nicht vorhandenen Pause zwischen Nr.3 und Nr.4. Vielleicht ein "schnell weg mit dem schrecklichen dritten Lied und gleich ins vierte gestürzt, um nicht vor Leid zu vergehen". Aber dort wird es dann ja auch nicht besser ... das fünfte hastet vorbei bis zur Beruhigung - der Beruhigung (Trost?), die hinterbliebene Eltern sich geben MÜSSEN, dass IRGENDETWAS an dem Verlust eines eigenen Kindes "akzeptabel" ist, um überhaupt weiterleben zu können. Bis jetzt habe ich diesen Schluss in Aufführungen bzw Aufnahmen immer als schön und wahrhaft tief, aber im Grunde auch als zu abrupt und unglaubwürdig empfunden. Hier mit Ferrier und Klemperer kommt eine Hand, welche meine Hand sicher und fest nimmt - wie ein Vater (vielleicht wegen der hier so deutlich präsenten aufsteigende Solostelle der Cellogruppe), der das verzweifelte Kind beruhigt. Ja - vielleicht mehr gefasste Beruhigung (eine getroffene Entscheidung) als der vorgestellte Trost, dass es den Kindern nun woanders gut geht. Natürlich ist das nur eine ganz persönliche Empfindung zu dieser Aufführung ... Um den Gedanken noch mit einem Satz zu ergänzen: Dieser Aspekt der "Beruhigung" geht eindeutig vom Orchester aus und hat denke ich mit Klemperer selbst zu tun, der so viele Schicksalsschläge in seinem Leben hinnehmen und mit seiner Bipolarität leben musste und sich immer wieder quasi selbst an die Hand genommen hat um wieder weiter machen zu können. Vielleicht ist das wahrhaftig Beruhigende in dieser Aufführung, dass hier in der Drangsal Gelebtes mitschwingt.
Eigentlich kann ich mir die Kindertotenlieder eh nicht anhören - ebenso wenig wie Tristan, Wozzeck u.a. einfach zu konkret ergreifende Werke ... aber dieser Live-Mitschnitt ist für die einsame Insel.
Zum Transfer: Eindeutig ist die Quelle eine 78ziger. Ein paar Schleifgeräusche, sehr guter Klang. Im Vergleich zu der Decca-Ausgabe ein deutlich verbessertes Klangbild, denn dort stören die Oberflächengeräusche doch sehr! Auch wurde bei der SACD etwas dunkler Concertgebouw-Raumklang hinzugefügt, was sich sehr vorteilhaft auswirkt - auch auf die Interpretation!
Mahler 2te mit Jo Vincent und Kathleen Ferrier (12.7.1951). Es ist und bleibt ein problematisches Tondokument. Bei Decca und anderen Ausgaben (die von Pristine Audio kenne ich nicht) ist der Mitschnitt der Aufführung es eigentlich nur eine rudimentär informatives "Dokument" über Ausdruck, Stimmung und Tempo. Dieser Transfer hier ist deutlich verbessert, weil die doch sehr störenden Oberflächengeräusche fast komplett entfernt werden konnten und versucht wurde, die Klangbalance in der Pyramide herzustellen, was aber wegen im Grunde fehlenden Bässen nur ansatzweise gelingen kann. Ein leichtes subfrequentes Rumpeln, das etwas Unruhe verbreitet, ist durch diesen Ansatz der Klangbalance zu hören.
Es ist nicht zu glauben, dass die Aufnahme im selben Konzert wie die Maurerische Tauermusik und die Kindertotenlieder entstanden ist. Durch die qualitativ so unterschiedlichen überlieferten Quellen liegen akustisch zwischen den ersten beiden Stücken und der Mahler 2ten gefühlt 10 bis 20 Jahre. Was die Mahler 2te auch in diesem Transfer von dem Gros der Transfers in dieser Box unterscheidet:
Es gibt eine nivellierte nicht konsistente Dynamik - also keine "naturalistische" Abbildung von lauten und leisen Stellen. Feinheiten kommen in sehr leisen Stellen kaum zum Tragen (leise Soli, Begleitung, manchmal auch Nebenstimmen, Fernorchester). In massiven oder sehr dichten Stellen gehen Details, Stimmengeflechte oder akustische Informationen aus dem Hintergrund (z.B. Fernorchester) unter. Die Farbigkeit ist sehr gering, der Klang im Forte generell eher schrill (z.B. Trompeten).
Klemperers Ansatz der "Auferstehungs-Sinfonie" ist beachtlich. Ich glaube nicht, dass es nochmal ein Tondokument einer solch "antiromantischen" (was nicht wertend gemeint ist) Aufführung gibt. Die Aufführungsdauer beträgt weniger als 73 Minuten (fast drei Minuten der angegebenen Spielzeit beinhaltet den Schlussapplaus), der erste Satz braucht keine 18 Minuten, der letzte keine 29 Minuten. Schon allein das ist "rekordverdächtig". Klemperer betont sehr das intensive Drama, ohne je eine Stelle auszubaden. Der Ansatz erscheint als ein Blick AUF das geschehen, weniger ein DARIN sein. Ich könnte mir vorstellen, dass der Dirigent sehr auf Balance und Klarheit geachtet hat, was zu diesem modernen und strukturellen Ansatz passen würde. NACHWEISEN lässt sich aufgrund der Schwächen der Tonquelle letztlich nicht wirklich. Das ist sehr schade. So oder so – man spürt dass Klemperers sich auf das Werk AN DIESEN ABEND eine ganz und gar einmalige war.
Beethoven 6te (7.7.1955). Eine sehr lebendige Aufführung. Ich habe mich doch mehr in die ein knappes Jahr später aufgezeichnete Aufführung vierliebt - vielleicht einfach weil ich diese als erste von den beiden kennengelernt habe. Es ist erstaunlich, wie ähnlich sich diese Aufführungen im Erprobten sind! Und 1955 dominiert mehr das "diesseitige Zeigen" des Orchestralen, vielleicht herzlich etwas kühler als 1956. Lesen sie also die Pastorale Besprechung der Pastorale vom 13ten Mai 1956, welche mir letztlich noch inniger und spiritueller erscheint. Raffinesse, Freiheit und Klangschönheit haben beide Aufführungen und diese hier erscheint trotz gemäßigter Tempi besonders lebhaft, was auch an dem besonders silbrig hellen Klangbild liegen mag.
Die technische Qualität ist auch in der 1955ziger Aufführung beeindruckend gut - wenn auch minimal(!) hie und da zu Beginn bei Stellen mit hohen Streichern der Effekt der leicht schwankenden Intensität der hohen Frequenzen zu hören ist.
Mendelssohn "Sommernachtstraum" Ouvertüre und 9 Nummern der Schauspielmusik (3.11.1955). Dieselben Nummern und Reihenfolge wie in der EMI Aufnahme mit dem Philharmonia Orchester. Hier durchweg etwas zügigere Tempi. Trotz seines eher ungewohnten Gesamteindrucks ein Sommernachtstraum, der keine Wünsche offen lässt. Das Orchesterspiel ist makellos (Flöte im Scherzo, 1.Horn im Notturno!), die beiden Solistinnen Cory van Beckung und Heleen Verkley harmonieren sehr gut und singen völlig ungekünstelt, der Tonkünstlerchor Amsterdam ist makellos. Übrigens ist endlich mal der komplette Text (auf Deutsch!) von "Bunte Schlangen, zweigezüngt" und "Bei des Feuers mattem Flimmern" auf Anhieb zu verstehen. Der Chor vielleicht deshalb, weil er arg "close-mike" (also direkt und eher laut) steht. Sehr überraschend: Die Tuba im Trauermarsch hat einen hellen Klang wie eine Ophikleide.
Otto Klemperer "erzählt" wieder mehr als auf der Schallplattenproduktion. Natürlich tut das gerade dieser Musik gut, wenn sie dem Inhalt nach und nicht allzu "absolut" gesehen wird. Es gibt ja auch noch eine späten Konzertmitschnitt mit dem Sinfonieorchester des BR. Dort werden gefühlt die halben Tempi der Aufführung im Vergleich zu hier gespielt. Somit ist das Erzählen sehr unterschiedlich: Dort sehr romantische mystisch erinnernde Seelenbilder, hier das diesseitige schräge Schaupiel mit allem Witz und Absurditäten. Der Transfer klingt sehr gut.
Beethoven 3te (6.11.1955). Offen gestanden - ich war ein ganz kleines bisschen enttäuscht nach alldem was ich hier in dieser Box an Überwältigendem hören konnte. Möglicherweise macht sich das nur an der doch für diesen Standard in der Box nicht ganz so guten Klangqualität fest. Anscheinend war die Originalquelle sehr problematisch, was dann im Transfer sicher so optimal wie möglich aufbereitet wurde. Dennoch klingt der erste Satz etwas dumpf (mit einem hörbaren Bandhiss mit den bereits beschrieben sehr leichten Höhenfluktuationen). Ein tieffrequentes Rumpeln schafft leider eine gewisse Unruhe über den ganzen Satz, was mich mehr stört als die Effekte in den Höhen. Das ist der wohl einzige Verbesserungsvorschlag, den ich bei dieser VÖ geben hätte können: Im diesem Kopfsatz in der Tiefe (zum Preis eines etwas engeren "blechernen" Klangbildes) tiefe Frequenzen etwas stärker zu filtern. Aber vielleicht nehmen das andere Zuhörer kaum wahr oder es stört sie nicht. Der sehr leise Anfang des zweiten Satzes war anscheinend so gestört, dass in der Filterung tatsächlich in den ersten 40 Sekunden Digitalisierungs-Artefakte auftreten - was sonst in dieser Box NIE vorkommt. Aber es sind nur diese paar Momente. Der weitere Teil des Trauermarschs, das Scherzo und das Finale scheinen sich in einem besseren Zustand befunden zu haben.
Nur zur Relation, weil ich diese klangtechnischen Mängel hier anführe: Insgesamt gesehen bewegt sich die akustische Qualität dieser Erioca immer noch über dem sonst oft üblichen Standard bei der VÖ solcher historischen Dokumente, ganz besonders wenn sie aus solch privaten Quellen stammen.
Die Aufführung selbst erlebte ich beim ersten Hören nicht ganz als solch eine "Sensation", als wie ich manche anderen Beethoven hier empfinde. Vielleicht lag das nur an meiner Erwartung, dass diese Eroica nun noch ganz etwas Besonderes in Inhalt und an Erkenntnissen zeigen müsse ...
Es ist eine rundherum lebendige aussagekräftige stimmige Erioca, die locker mit den zwei EMI Aufnahmen konkurrieren kann. Das Momentum der Live-Aufführung wirkt sich auch hier positiv aus. Klemperer ist im Konzert ein genialer "Seelengeschichtenerspürer" gewesen, was sich im zweiten und vierten Satz besonders zeigt.
Mozarts "Exultate, jubilate" (10.11.1955) mit Maria Stader. Makellose Aufführung - vielleicht abgesehen von der kleinen Einschränkung, dass bei Sopranistin in paarmal das Gebäude der Dreiklangsbrechungen und Läufe ein ganz kleinen bisschen wackelt. Durchweg traumwandlerisches Zusammenspiel und ein wunderbar lyrischer Mittelteil mit Maria Staders heller und dennoch warmer Stimme.
Mozart "Eine kleine Nachtmusik" (10.11.1955). Eine unfassbare Aufführung - nicht von dieser Welt! Ein absoluter Höhepunkt dieser Box und im allem möglichen Musizieren überhaupt! Sowohl was Klemperer als auch das Spiel jedes(!!!) Streicher des Concertgebouw Orkest betrifft. Klemperer vermeidet alle Starre und Statische. Lebendig, luftig, schlank, locker und extrem präzise und weit mehr als das - hören sie nur mal den Auftakt des vierten Satzes! Zu der schier übermenschlichen Präzision (es gibt keinen einzigen Ton, wo nur ein Geiger, Bratscher, Cellist oder Bassist nicht das spielt und fühlt, was genau in diesem Moment richtig und absolut getimt und artikuliert und intoniert gehört. Ich denke ich übertreibe nicht - hören sie selbst! Dazu gesellt sich allerhöchstes agogisches und dynamisches und artikulatives Raffinement - alles nur allein aus der Musik und deren Geist entstanden. Das Flair der Aufführung ist unbeschreiblich. Für mich allererste Wahl (da lasse ich sogar die wunderbare anders geartete Reiner-Aufnahme stehen). Der Klang des Transfers ist ausgezeichnet - wieder im Grund Studioqualität.
Mahler 4te (10.11.1955). Eine zügige Aufführung, die das Schrill-Schräge, Phantastische, Abgründige und Moderne des Werks betont. Der Kopfsatz unergründlich, das Scherzo phantastisch dämonisch, das Adagio eine Seelendrama - eine Geschichte von innerem Frieden ("ich ruh´ in einem stillen Gebiet"), Bedrängnis und Versuchung. Klar und schnörkellos und doch voller Poesie, Intensität und panischer Verzweiflung - der Ausbruch dann eine große Vision. Danach mehr ("Tod und) Verklärung", zumindest eine völlige Entrücktheit. Harmonisch so nah am spirituellen Holst, was mir noch nie so auffiel wie hier. Die "Himmlischen Freuden" von Maria Stader äußerst irdisch zupackend vorgetragen. Ihre Stimme passt gut dazu - weil nicht zu keusch, nicht verkünstelt. Auch im Text wird ja das pralle Leben dargestellt. Die Ebene "dahinter" entfaltet sich ja über den ganz direkten und bewusst unreflektierten Vortrag (schöner Widerspruch - aber eben DAS ist ja das so Schwierige an diesem Satz). Im zweiten ruhigeren Teil "Kein Musik ist ja nicht auf Erden" bei den Worten vom Tanz schon in der Formung der Worte das Tänzerische. Die irdische Ebene wir nicht verlassen, aber die leichte Ahnung des "darüber hinaus" verstärkt den Zauber und das Geheimnis umso mehr! Ganz ganz großartig ... ich bin ganz froh, dass hier mal ausnahmsweise der Schlussapplaus nicht dabei ist ...
Ausgezeichneter Transfer. In der Abbildung des Raumklangs des Concertgebouw unauffälliger, wodurch das Orchester heller, "aggressiver" und nicht ganz so golden samtig wie sonst hier klingt. Wahrscheinlich ist die Ursache die originale Tonquelle, die sehr Höhenbetont ist. Dafür gibt es extreme Klarheit. Ein perfekter Transfer. Wieder quasi Studioqualität.
Beethoven "Die Geschöpfe des Prometheus" (2.5.1956). Ja - auch das "kann" Klemperer absolut! Und mit KANN meine ich den ganz anderen Maßstab dieser Live-Konzerte. Sehr gute Solisten ... Der Klang ist sehr gut.
Beethoven 3tes Klavierkonzert mit der Solistin Annie Fischer (2.5.1956). Der Kopfsatz ist nicht so ganz mein Fall. Vielleicht bin ich bei diesem Konzert besonders "angespitzt" (damit meine ich nicht kritisch), weil ich es selbst zweimal dirigiert habe. Der erste Satz hat schon von der Komposition her etwas sehr statisches und blockhaftes, was man als Interpret vielleicht nicht noch unterstützen sollte. Mein Bestreben war zumindest, mehr die Linie und das Verbindende zu suchen. Das vermisse ich hier ein wenig. Der langsame Satz hat bei Annie Fischer magische Momente. Sie schafft die Stimmung ohne in den "Chopin-Ton" zu verfallen, wie es so viele Pianisten tun. Der letzte Satz ist schön lebendig und die unterschiedlichen Stimmungen aufgreifend musiziert. Es gibt in der Aufführung immer mal wieder die für dieses Konzert typischen kleinen Ungenauigkeiten. Vor dem Kennenlernen der Live-Aufnahmen mit dem Concertgebouw Orkest hätte ich das als normal empfunden, jetzt bin ich doch eher erstaunt darüber ;-)
Beethoven 2te (2.5.1956). Eine wunderbare Aufführung. Perfekt proportioniert, intensiv und sehr klar und deutlich in den Aussagen bzw. dem Ausdruck, aber alles klassisch "normal". Nichts ist übertrieben oder "gewollt". Und das passt zu dieser leider eher selten gespielten Sinfonie Beethovens, die sich vollkommen aus sich selbst heraus darstellt, genau. Alle Details, jede Linie, jegliche leichte tänzerische Bewegung - alles ist da. Die wechselnden Gesichter des Kopfsatzes, die leicht lächelnde (österreichisch-charmante) Melancholie im Larghetto ebenso wie das Feuer im Scherzo und besonders auch im finalen Allegro molto, ohne dessen Liebenswürdigkeiten zu überfahren. Schönster Beethoven, bewunderungswürdiges Orchesterspiel.
Sehr gute Tonqualität ohne Störungen. Wiederum eine ganz minimale Inkonsistenz in den Höhen, die diesen Privatbänder, die mit 9,5 cm/sek aufgenommen wurden, wohl eigen ist. Wie schon mal hier gesagt: Vielen Hörern wird das gar nicht auffallen.
Dritte Leonoren Ouvertüre (2.5.1956). Unbeschreiblich. Und alles saugt aus der Sprache (wie bei der Sinfonietta von Janacek - dort ist es natürlich Tschechisch, hier Deutsch) und dem Inhalt der Oper. Ich konnte nicht umhin immer wieder daran zu denken: Warum war Klemperer im Studio so anders wie live?
Ist es der Unterschied vom Philharmonia Orchestra zum Concertgebouw Orkest?
War es nur das fehlende Publikum?
Die Studio-Atmosphäre?
Das Wiederholen undder Umstand eines "fertigen" Ergebnisses?
Die Arbeit mit Legge?
Oder hat sich seine Unlust am Schallplatten produzieren in der Wesensart Klemperers tatsächlich sofort so krass niedergeschlagen, dass ihm ein Teil der Energie (besonders die Freude am rhythmischen Erleben) abhanden gekommen ist?
Oder hat er einfach mit dem Wesen der Musik und seiner Vorstellung von Musik "experimentiert" und es niemand verraten?
Wenn man die Leonoren Ouvertüre (wie auch das meiste andere hier) hört, dann kann man es schier nicht glauben, dass das Klemperer dirigiert. Aber wer könnte es sein?
Reiner ... die Genauigkeit der Gestalt und das Balancehören und die Aufmerksamkeit für die Soli: ja - aber nein, es ist zu locker, zu unbeschwert frech und zu frei.
Toscanini ... der Wille zum Äußersten in Ausdruck und die Einheit von Rhythmus und Linie: ja - aber nein, es ist zu wenig streng.
Walter ... das Suchen und Finden des tief Menschlichen und Philosophischen im Werk: ja - aber nein, es ist viel markanter und moderner.
Munch ... die glückliche Einheit von Form und Feuer: ja - aber es ist philosophischer.
Der frühe Karajan in seiner besten Momenten ... das Formgefühl und die Orchesterbalance: ja - aber es ist viel mehr mit visionärem Inhalt gefüllt.
Furtwängler in seinen stärksten Momenten ... der glückvolle Augenblick, das Entstehen im Moment, die ergreifende Faszination des Unerhörten: ja - aber es ist zu genau und diszipliniert.
Celibidache ... nee ganz bestimmt nicht, schon mal wegen des doppelten Tempos ;-)
So könnte ich weitermachen ... ;-)
Zur Leonoren Ouvertüre nur ein Detail: Hören sie die Streicher-Skalen die nach dem verstummen und der Pause zum letzten Jubel anheben. Noch nie habe ich diese Sinnhaftigkeit UND die kompostionstechnische Ebene (Verschiebungen im Rhythmus) PLUS eine unglaublich perfekte Ausführung durch die Streicher so gehört wie hier. Und das ganze ad hoc live. Es grenzt an ein Wunder ...
Beethoven 6te (13.5.1956). 44:30 Minuten Pastorale. Entspannt bewegt - nicht langsam, nicht schnell. So angemessen, dass sich alles in Noten und Stimmung entfalten kann und kein Detail untergeht. Es erfreut gleich im Kopfsatz, dass die (manchmal poly)rhythmischen Strukturen immer hellwach gespielt sind und von Leben erfüllt sind. Was für eine unglaubliche Raffinesse in der Verschränkung von Rhythmischem und Lyrischen zu hören sind! Die Naturerlebnisse sind von Anfang an tief empfunden ("Ausdruck der Empfindung", wie Beethoven dazu sagte), freudig, heiter und dankbar. Die ersten Begleittakte der Szene am Bach lassen von Anfang an keine Zweifel daran aufkommen, dass auch hier alles noch so "Begleitende" oder "Nebensächliche" nicht durch ausgefeilte Agogik, Phrasierung und Dynamik. Klemperer macht da so viel (aber nicht aufdringlich oder gar unangemessen!), dass sich an zwei kleinen Stellen tatsächlich minimalste orchestrale Reaktionsungenauigkeiten einschleichen. Ist aber angesichts des musikalischen Gewinns völlig irrelevant, ja sogar angesichts des durchweg schier unglaublichen Zusammenspiels sympathisch. Und was für eine Schönheit und freies entspanntes Atmen im Streicherklang, was für leuchtende farbige Holzbläser. Nichts unterbricht den Fluss und das Träumen der Musik - die abschließende Vogelstimmen-Stelle ist völlig integriert und kein (wie manchmal peinlicher) Anhang. Dann als echte Überraschung ein widerbostiger, eckiger anfangs langsamer Bauerntanz, der anfangs gar nicht recht fließen will. Aber halt: bei Klemperer kommt der Tanz tatsächlich erst im 2/4tel Allegro - was absolut richtig ist, was der Blick in die Partitur zeigt. Das habe ich so klar und bewusst noch nie wahrgenommen. Dann die grandios volle dunkle Pauke im Gewitter, die chromatischen Läufe der Streicher - und auch hier die Innerlichkeit(!) des Naturerlebnisses. Kein äußerer Theaterdonner, sondern Ergriffenheit angesichts der macht der Natur. Ein mystischer Moment, der den Pantheismus des Werks erleben lässt. Auch in diesem Punkt absolut stimmig das Aufwallen der frohen Gefühle danach als Fortsetzung der "Bauernszene". Ich habe es noch nie erlebt, dass ich die Musik sowohl in eigener Dankbarkeit als auch als Bild der wieder tanzenden Menschen erleben konnte. Mit welcher tänzerischen Kraft und Freude man hier angesteckt wird. Dann die Dankbarkeit als lauter Ausruf und anschließend ganz am Ende als kleines, aber demütig stilles Gebet. Nichts Weihevolles - und schnell vorbei ... Eine spirituell wohl unüberbietbare Pastorale! Übrigens: Was die Spielzeiten angeht fast identisch mit der Aufführung von 1955. Wieder mal im Grunde absolute Studioqualität.
Beethovens 4te (9.5.1956). Endlich sind die Einleitung und das folgende Allegro eine Einheit. Meist zerfällt der Kopfsatz ja in zwei Teile - nicht so hier. Kubeliks Idee von dem "Verdurstenden in der Wüste" in der Einleitung ist eine interessante "Erklärung" für das folgende Allegro, aber hier wird das ganze rein musikalisch stimmig gelöst. Dann ein Adagio, das niemals langatmig wird weil es immer agogisch flexibel bleibt und von den wechselnden Bildern getragen wird, ein quirliges Scherzo und ein feuriges geistvolles Finale. Nichts ist übertrieben, alles in Relation zueinander, alles wunderbar musiziert. Es ist immer wieder faszinierend zu hören, wie sauber und rhythmisch locker und präzise die Live-Aufführungen von Klemperer und dem Concertgebouw Orkest sind. Eine ganz und gar wunderbar natürliche und erfüllte Aufführung der 4ten - es gibt nur wenige dieses Kalibers - und meines Wissens keine vergleichbare mit Klemperer ... Wunderbarer Klang, im Grunde Studioqualität.
Beethovens 5te (9.5.1956). Alles(!) was zu der 4ten geschrieben habe gilt auch hier. Vielleicht noch zusätzlich: Was für eine gelungene Agogik im Kopfsatz, damit nie die Spannung nachlässt. Was für eine rhythmische Bewegung und Linie im Andante con moto(!). So eine Emphase und Leben in der Musik! Und die letzten beiden Sätze sind ein Wunder. Immer bleibt die Musik sehnig, nichts wird grob, alle instrumentatorisch so hervorgehobenen Motive leuchten und sind so bewusst in dem ganzen Guss gespielt, dass ich immer wieder dachte "so und nicht anders" ... Besonders berückend ist, dass auch die meist nur als sieghaft empfundenen Forte-Stellen (Hauptthema) im letzten Satz hier niemals das Tänzerische verlieren, was diese Musik ja so hoffnungsvoll freudig erscheinen lässt. Das Finale ist eben so reich an Nebengedanken, Vielschichtigkeit und Dramatik. Klemperer erreicht das durch raffinierteste Agogik und ein Hörbarmachen an Nebenstimmen, die sonst immer untergehen. Dabei ist nicht übertrieben - weder im Tempo, noch Dynamik noch in den Absichten. Klemperer hat das Stück jede Sekunde verinnerlicht und bringt das auch jede Sekunde 1zu1 ins Orchester und somit auf den Zuhörer rüber. Was für eine Leistung an Bewusstsein, Präsenz und Konzentration - oder besser: DASEIN IN DER MUSIK! Für mich eine der allerschönsten und bewegendsten Fünften die ich je gehört habe und was das Finale angeht vielleicht DIE Aufführung schlechthin ... Und was für ein eingefangener Klang des bravourösen Orchesters (Streicher, Bässe! Holz! Blech! Pauke!). Für mich DIE Beethoven 5te mit Klemperer - mit Abstand! Kein Detail geht verloren. Absolut beste Studioqualität und was die Durchsichtigkeit und Natürlichkeit und Präsenz des Klangs angeht - sogar bis heute!
Beethoven 7te (13.5.1956). Eine Aufführung, die sehr an die eine halbes Jahr zuvor entstandene superbe Studio-Aufnahme mit dem Philharmonia Orchestra (mit fast identischen Spielzeiten) erinnert. Es ist für mich persönlich solch eine große Freude zu hören, dass das Concertgebouw Orkest dem großen Londoner Orchester in nichts nachsteht. Wohl ein Startschluss, mal endlich in die 152 Live-CDs, die das Orchester in einer großen Box (in zwei Teilen) rausgegeben hat (1935-2010), systematisch reinzuhören. Es ist eine der allerschönsten tänzerischsten, erfülltesten und auch bewegendsten (Andante!) Live-Aufführungen, die ich von der Siebten je gehört habe. Die Einleitung zerfällt nicht, es besteht eine spannungsvolle Verbindung zu folgenden Vivace. Das Allegretto in einem nicht gehetzten aber stetig fließenden und rhythmisch luftigem echten 2/4tel Takt, nicht wie oft in einem gefühlten trauermarschartigen 4/8tel Takt. Das Presto-Scherzo ohne übertriebene aktionistische Hektik, denn nur so ist die verträumte Stelle im Trio sinnvoll ... und dann der seltsam visionäre Ausblick mit Pauken und Trompeten. Kaum habe ich je den dritten Satz so überzeugenden gestaltet gehört. Kaum ein Atemholen vor dem Finale. Das Grundtempo ist nicht wirklich schnell, aber der Zug nach vorne so stark, alles so agogisch differenziert und die Spielweise so pointiert und in den Schwerpunkten (und dem schwer-leicht in den Takten) tänzerisch die Artikulation, dass keinerlei Gefühl von Schwere oder Langsamkeit aufkommt. Alles ist wohl kalkuliert, denn nur so können sich die Nebenschauplätze in ihren Besonderheiten und die Steigerungen samt der Schlussapotheose entfalten.
Wagner hatte schon recht: Der Knackpunkt in der siebten ist das Tänzerische - und zwar in JEDEM Satz ... Klemperer erreicht das auf ideale Weise! Ich hätte nie gedacht, dass Klemperer für mich mal der Inbegriff eines Dirigenten sein würde, dem souverän und geschmackvoll rhythmisch federnde Leichtigkeit und absolute Präzision (auch in den halsbrecherischsten Tempi wie bei anderen dieser Live-Aufführungen hier) im Blut liegen.
Wieder superb aufgenommen. Der Klang des Transfers ist sehr gut, auch wenn man wieder mal in den Höhen eine leichte "grieselige" Inkonsistenz der Originalquelle hören kann. Aber - wie immer hier bei allen Mitschnitten außer der Bruckner 4ten - ist das ein Anmerken in einem sehr feinen Bereich.
Beethoven 8te (17.5.1956). Eine sehr stimmige elegante klanglich absolut ausgefeilte Aufführung der Achten, welche die Schönheit und apollinische Reife des Werks betont. Im Gegensatz zum Mitschnitt der Achten von 1949 erscheinen die Tempi gemäßigter (und dennoch flüssig und mit Zug) und die Akzente sind nicht so unerbittlich. Der Witz, das Groteske und Eigenwillige werden nicht so in den Vordergrund gestellt. Phantastischer Klang in Studioqualität ohne jegliche Trübung.
Beethoven 9te (17.5.1956).
Mozart Sinfonie Nr.29 A-Dur (12.7.1956). Klemperers Ansatz des Kopfsatzes (Allegro moderato) war immer schon mit Blick auf das moderato ausgerichtet - aber hier nicht zäh oder statisch. So ergibt sich wieder die sehr dichte Intensität, die von den besten Klemperer Aufnahmen her bekannt ist. Auch in Andante wunderschöner Streicherklang, auch luftig und tänzerisch. Der Klang ist so offen, dass die Farbe des con sordino sehr gut trägt. Sehr bewegt das Menuetto und wirklich CON SPIRITO das Finale - was für eine Energie in den aufwärtsfahrenden Streichern, und nebenbei: was für eine Präzision! Minimal belegt im Klang (vielleicht gab das originale Tonband ja nicht mehr in den Höhen her oder war sehr verrauscht. Ist so aber sehr gut zu hören. Nach ein zwei Minuten Eintauchen in die Aufführung fällt einem das gar nicht mehr auf. Letztlich insgesamt auch annähernd Studioqualität.
Mozart Klavierkonzert Nr.22 Es-Dur (12.7.1956). Klemperer und die Pianistin Annie Fischer harmonieren perfekt im Ansatz ("Idee") des Stücks und dessen Ausführung. Ernst (aber nicht nur und nicht aufgesetzt!) groß, kraftvoll, spielfreudig, vielschichtig, flexibel. Der langsame Mittelsatz mit einem großen Zauber in der Kantilene und ergreifender Ausdruckskraft. Das abschießende Rondo quirlig und drängend - und dennoch immer mit dem Blick auf Feinheiten und Zeit für "Nebenschauplätze". So ist das 22te Es-Dur ein wirklich großes Konzert. Annie Fischer ist auf dem Höhepunkt ihrer immensen instrumentalen Fähigkeit und ihrer Phantasie. Es bleiben keinerlei Wünsche offen, ganz großartig! Hervorragender Klang, durchaus in bester Studioqualität.
IM HÖRVERGLEICH die offizielle Ausgabe des RCO (große 152 CD "Radio Legacy Box"):
Scheinbar(!) ist in der RCO-Ausgabe das Mozart Klavierkonzert Nr.22 offener im Klang, was aber täuscht, da man Bandhiss und Störgeräusche subjektiv als offenen Klang wahrnimmt, obwohl gar nicht mehr musikalische Information vorhanden ist. Die RC--Ausgabe ist sehr hell und somit in den unruhigen Höhen auch zerfaserter und unangenehmer zu hören. Die ARCHIPHON-Ausgabe ist klarer, runder, farbiger, besser in Frequenzbalance und im Aufbau der Klangpyramide, klingt deutlich(!) weniger nach historischer Aufnahme und hat auch einen etwas höheren Ausgangspegel.
Mozart Oboenkonzert (12.7.1956). der Oboist Haakon Stotijn gibt seinem Solo-Instrument etwas Raues und markant Gemeißeltes (Tonrepetitionen, Staccato-Läufe), das man nicht per se mit der Oboe verbindet. Er lässt aber auch nicht Ton und Linie vermissen. Mozart ohne die gern gepflegte Gefälligkeit, sondern als große Musik. Klemperer nimmt einfach jedes Werk, das er dirigiert, in seinem Wesen ernst! Die Klangqualität ist optimal. Quasi Studioqualität.
Mozart "Jupiter"-Sinfonie (12.7.1956) mit allen Wiederholungen. kein fröhliches oder feierliches, sonder ein ernstes C-Dur. Im Kopfsatz, Andante und Menuetto ein stetiges gemessenes Tempo, aber nicht langsam oder zäh. Im Menuetto durchaus auch tänzerisch und im Finale durchaus rasant und auch übermütig (eine Flötenstelle des Themas klingt schier wie fröhlich gepfiffen). Im letzten Fugato ein minimal verbreitertes Tempo zur Gewichtung. Eine durch und durch konsistente und "richtige" Aufführung dieser für mich immer noch etwas unbegreiflichen letzten Mozartsinfonie. Vielleicht begreife ich ja irgendwann doch noch dieses große Opus - vielleicht anhand dieser Aufführung? ..... Ganz selten minimalster(!) Brumm, ansonsten makelloser Transfer. Wieder mal ein wunderbares Klangbild. Quasi Studioqualität.
Ebenso großartig Bachs h-moll Suite (7.2.1957) mit dem phantastischen Flötisten Hubert Barwasher. Was für eine Stringenz und ein Zug durch die ganze Suite! Es ist hier die Quadratur des Kreises gelungen: ernst, männlich kraftvoll, weich, träumerisch, immer das leichte, Tänzerische vorhanden mit großem Bogen, nicht romantisch und denn schmerzlich sehnsüchtig - und das alles zugleich! Wunderbar aufgenommen, besser geht’s nicht. Perfekt ausgewogen in Flöte, Streichern und Continuo. Optimale Tonqualität mit minimalen Netzbrummresten - quasi zu vernachlässigen. Quasi Studioqualität.
Bachs "Weichet nur, betrübte Schatten" (7.2.1957) bewegt sich in jeder Hinsicht auf gleicher Höhe wie die h-moll Suite - für mich mit der Ausnahme der Solistin Elisabeth Schwarzkopf. In der (großartigen!) Missa Solemnis ist sie "nur" Ensemblemitglied, hier bei Bach kann sie voll und ganz ihre solistischen Ideen ausleben. Und da stören mich - bei aller Wertschätzung für Schwarzkopfs gesanglicher Kunst und Sicherheit - doch sehr die sprachlichen Manierismen, die sie damals schon pflegte.
Viel besser gefällt sie mir da in Mozarts anschließender Konzert-Arie "Ch´io mi scordi di te?". Da ist die gewisse Exaltiertheit für mein Empfinden besser angebracht als bei Bach.
Brahms Haydn-Variationen (7.2.1957) - kraftvoll streng und doch phantasievoll, in vollendeten Orchesterspiel. Ausgefeilt, festlich - ja am Ende feierlich - und dennoch sehr lebendig. Quasi Studioqualität.
Strauss´ Till Eulenspiegel (7.2.1957): fließend genau differenziert, launig sporadisch sprunghaft, zudem elegant und unglaublich im Zusammenspiel, auch im rhythmischen Ablauf ... da denke ich doch an Legge und seinen Anspruch des "Weltbesten": es geht auch bescheidener - z.B. hier ;-) ... aufnahmetechnisch und bezüglich Transfer ... PERFEKT! Klingt besser und anspringender als die allermeisten Studioproduktionen - und zwar bis HEUTE!!! Eine wunderschöne Mischung von direktem Signal und Raumklang ... Nochmals: KEINERLEI technische Einschränkung, in jeder Hinsicht ein Traum! Absolut in bester Studioqualität.
Mozart Don Giovanni Ouvertüre (26.6.1954). Drama pur, ein unglaublich rasanter "molto Allegro" Einstieg. Wirklich molto Allegro! Die letzten Takt im Konzertschluss dann nochmal eine Überraschung in Form von einer Oktavierung der ersten Geigen. Wie wohl früher der ganz Don Giovanni mit Klemperer geklungen haben mag? Das kann die Studio-Produktion von EMI wohl nicht vermitteln ...
Mendelssohns Violinkonzert mit der Solistin Johanna Martzy (26.6.1954, die 6 Takte Überleitung im Fagott zum zweiten Satz fehlen - oder wurde das etwa so aufgeführt?). Eine schöne Aufführung, auch wenn die Martzy nicht so ganz mein Fall ist ... Wunderbar ist jedenfalls, dass hier Mendelssohn nicht von der oft gepflegten schwärmerischen Süßlichkeit hat. "Einfach" ein ernstes intensives Violinkonzert. Klemperer bricht mal wieder mit allen sogenannten "Traditionen". Vielleicht hat ihm das ja Mahler mitgegeben ... Mozart (ein wenig) und Mendelssohn (am Anfang etwas deutlicher) lassen leicht die Frequenzunregelmäßigkeiten des originalen Bandes erkennen. Aber alles bewegt sich in völlig akzeptablem Rahmen.
Die Hebriden Ouvertüre (21.2.1957) hat wohl stärkere Frequenzschwankungen in der Höhe (hier als Quelle der Rundfunk, Lagerung des Bandes? Spurlauf des Bandes?), die nicht völlig eliminiert werden konnten. Man wollte das Frequenzspektrum möglichst offen halten, was durchaus zu begrüßen ist. So treten an manchen Forte-Stellen mit viel Höhen eben diese Höhensschwankungen auf. Ich persönlich kann das verkraften, da ich mit beiden hier vorhandenen Hebriden Ouvertüre Mitschnitten noch nicht richtig warm geworden bin.
Auch gegen Ende der "Sinfonie in 3 Sätzen" (21.7.1957, ein Stück, das mir nach wie vor fremd ist) von Strawinsky (1957) und der Meistersinger Ouvertüre (21.7.1957) - einer sehr schönen Aufführung - tritt das Phänomen eines schwankenden Spurlaufs (meine Vermutung) nur leicht zu Tage, aber nicht mit den Höhen-Frequenzschwankungen wie bei der Hebriden Ouvertüre. Die Durchsichtigkeit und Klangschönheit bleiben einigermaßen gewahrt.
Phänomenal in jeder Hinsicht ist die Schubert 4te (21.2.1957). Klemperer ist hier unglaublich gut, ebenso gibt das Orchester alles, die Aufnahme ist wunderbar gelungen und das Band scheint in tadellosem Zustand gewesen zu sein - zumindest ist es das Ergebnis des Transfers! Die Meistersinger Ouvertüre hat leuchtende Wärme.
Zu der Aufführung von Beethoven Missa Solemnis (19.5.1957) fehlen mir die Worte bzw sie wären zu schwach für das, was man hier erleben kann. Für mich eine Sternstunde - in jeder Hinsicht: Klemperer, Solisten, Chor, Orchester, Aufnahme und auch Transfer! Quasi Studioqualität.
Klemperers Sinfonie Nr.1 (22.6.1961) erscheint (wie auch die 2te) auf den ersten Blick wie eine Ansammlung von skizzenhaften Ideen, die einander bruchstückhaft und oft sehr kurz folgen. Für die meisten Hörer wird das auch so beim zweiten oder drittenmal hören so bleiben ... Aber es gibt durchaus Form und Zusammenhang. Ich denke Klemperer war - ganz seinem Wesen entsprechend - auch beim Komponieren nicht darauf aus, für jeden verständlich zu sein. Vielleicht stand die Idee, das klangliche Phänomen, die Aussage oder die Lust an dem Experiment für ihn mehr im Vordergrund als die geschliffene Ausführung. Mich hat die kaleidoskopartige sprunghafte Erzählweise in Klemperers Sinfonie immer schon angesprochen - vor 40 Jahren war es die 2te mit Philharmonia. Klemperer stört und zerstört längere Entwicklungen und Aufbau, auf (fast) nichts kann man sich länger "ausruhen" und er desillusioniert somit sicher viele Zuhörer. Manchen mag das frustrieren - mich hat es fasziniert.
Im gleichen Konzert (22.6.1961) darauf gleich die mutigste und unkonventionellste Bruckner 6te, die ich je gehört habe! Dennoch wirkt sie nicht "gewollt" oder übertrieben. Die Musik spricht frei auf eine Weise, wie sie - für mich (und ich liebe das Stück und kenne sehr viele Aufführungen/Aufnahmen!) - bis hier noch nicht zu hören war. Im Grunde gibt es keine neuen "Erkenntnisse" oder Details, aber die Rede Bruckners hat hier so frei, modern und menschlich vielschichtig. Bei aller Liebe zur ausgereiften und edlen 7ten: Die 6te ist persönlicher, phantastischer, unberechenbarer, geheimnisvoller und moderner. Nicht umsonst hat Mahler die Binnensätze dirigiert. Quasi Studioqualität.
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Noch ein Wort zu dem durchweg erstaunlichen gut eingefangenen Raumklang des Concertgebouw:
Natürlich kann ich letztlich nicht sagen, was da rein von der originalen Klangquelle stammt und ob und wenn dann wo beim digitalen SACD-Transfer auf elektronischem Weg noch etwas hinzugefügt wurde. Anhand der wenigen Vergleichsmöglichkeiten (die große RCO-Box und ein zwei frühere Archiphon-CDs) kann ich da eigentlich nichts "nachweisen" (außer im Vergleich zu Decca bei den Kindertotenliedern), denn in Puncto Raumklang gibt es keine signifikanten Unterschiede. Aber auch wenn hie und da nachgeholfen worden sein sollte: Ich gebe mich gern jeglicher Illusion hin, wenn sie so stimmig echt klingt und das musikalische Gesehen unterstützt wie hier.
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Noch etwas: Das Buch ist zugleich ein kleines Portrait und eine sehr kritische Betrachtung von Walter Legge. An einigen Stellen wird dessen selbstherrlicher Charakter, manipulatives Verhalten und egozentrische Entscheidungen und über allem ein großer (manchmal auch musikalischem Ethos zuwiderlaufenden) Geschäftssinn deutlich angesprochen. So verdienstvoll sein Einsatz für die Musik und Klemperer war, so sehr hat er sich aber auch selbst überschätzt. Da waren Spannungen mit Klemperer natürlich vorgezeichnet, da dessen Intentionen ausschließlich von musikalischen Kriterien, Vorstellung und Arbeitsweise in SEINEM Sinne bestimmt waren.
FAZIT:
Sicherlich gibt es mittlerweise viele sehr gut remasterte kommerzielle Aufnahmen, über deren Wiederveröffentlichung auf CD sich Kenner (und auch Neulinge!) die Musik in erfüllendster Weise erschließen können. Eine solche Zusammenstellung wie hier mit 24 CDs mit Live-Aufnahmen - eine musikalisch und klanglich unglaublicher als die andere! - hat es die letzten Jahrzehnten und vielleicht noch nie gegeben. Archiphon hat hier wirklich eine epochale Edition herausgebracht. Natürlich werde ich es nicht tun - aber im Grunde kann man alle Studio Produktionen Klemperers der hier gespielten Werke getrost vergessen ...
Die Box lege ich allen ans Herz, die Klemperer mögen - und vielleicht doch noch nicht kennen. Zudem allen, die sich an eine unglaublich guten Remastering-Arbeit von wahrlich erhaltenswürdigen Aufzeichnungen großartiger Aufführungen erfreuen. Und letztlich jedem, der sich von Musik erfüllen und davon tragen lassen möchte und sich dabei nicht daran stört, dass diese Mitschnitte monaural und 70 Jahre alt sind (was man insofern nicht hört, weil einem nichts an unverstelltem Erleben der Musik genommen wird). Das Wahre ist lebendig und altert sowieso nie ...