Referenzverdächtig!
Gerade die letzten Tage habe ich ein Videointerview mit Kent Nagano gesehen, in dem er sich über das Finale der Bruckner Neunten und die Aufführungsversion der Mahler Zehnten (kritisch, aber nicht völlig ablehnend) äußert. Ich habe daraus wieder meine Vermutung bestätigt bekommen, dass, wenn nicht so groß MAHLER über dem Werk stehen würde, durchaus mehr bekannte Dirigenten sich der Gemeinschaftskomposition von Deryck Cooke zuwenden würden.
Hier rächt vielleicht sich Cookes große Bescheidenheit. Er nennt seine großartige Arbeit ja ausdrücklich „Performing Version“ (Aufführungsversion) und es scheint im fast peinlich gewesen, dass sein Name überhaupt erscheint. Seine Absicht war klar zu machen, dass es sich nicht um ein fertiggestelltes oder gar „vollendetes“ Werk Mahler handeln kann. Das haben anscheinend noch nicht mal Dirigenten wie Nagano WIRKLICH begriffen. Die sehen ihre Verantwortung dem Namen Mahler gegenüber, auch wenn sie zunehmend an den Gehalt der Komposition glauben. Was wäre, wenn die Autorenschaft ganz und gar anonym wäre?
DIE ZEHNTE sollte stolz die Autorenschaft der Namen „Mahler, Cooke und Goldschmidt“ tragen!
DIE VORLIEGENDE EINSPIELUNG
Yannick Nezet-Seguin dirigiert in diese Mitschnitt einer Liveaufführung (wohl mehrerer!) das ausgezeichnete kanadische Orchestre Metropolitain (aus Montreal). Die Spielzeiten der Sätze bewegen sich moderat im Rahmen des mittlerweile Gewohnten: 26:28 – 12:02 – 4:15 – 12:03 – 24:18. Die Notengrundlage des ja unvollendet gebliebenen Werks Gustav Mahlers bildet die zweite revidierte Fassung von Cooke / Goldschmidt / Matthews in der Druckausgabe von Faber (ISBN-13: 978-0571510948).
Beim Mitlesen mit Partitur kann ich glücklicherweise exakt auf die hier verwendete Notenausgabe zurückgreifen. Übrigens wunderbar liebevoll herausgegeben mit sehr lesenswerten umfangreichen Texten (auch Deutsch übersetzt!) von Goldschmidt / den beiden Matthews und Cooke, samt kleinem revisionsbericht und den zusätzlich kenntlich gemachten bzw. abgedruckten Particell-Angaben Mahlers.
DIE SÄTZE
1. SATZ: Gleich zu Beginn in dem langen unisono Bratschen-Monolog auffällt das langsam Fließende auf. Wo andere eine deutliche Artikulation (als Sprache) dieser langen Phrase betonen, dominiert hier das Melos. Der Gedanke „so hätte vielleicht Karajan das Adagio dirigiert“ kam mir. Schön wie nach dem zweiten Anlauf der Bratschen dann das Hauptthema sich in großer Fülle und Klangschönheit mächtig entfaltet – mit aller Ruhe ohne zähl zu werden. Der Übergang zu dem „fließend“ des Seitengedankens ist weich und das neue Tempo nur leicht beschleunigt.
Der Ausbruch bei Takt 194 ist folglich nicht marcato-brutal (es steht da auch keines!) und in Streichern und Blech exakt im angegebenen ff, nicht dem oft gehörten fff. Nur das Holz spielt wie angegeben fff. Sehr aufhören lässt die Lesweise von Seguin beim Einsatz der Streicher zu diesem Takt. Er nimmt den ersten Achtel-Akkord der Streicher tatsächlich als abgesetzten Vorschlag, also quasi Auftakt. Und das finde ich wirklich schockierend, da nicht nur der unheimliche Akkord einsetzt, sondern es davor einen Schreckmoment gibt, der das harmonische Chaos noch entsetzlicher erscheinen lässt. Es klingt wie ein Fehlschnitt oder man fällt genau da wo man es nicht erwartet im Bruchteil einer Sekunde durch eine sich blitzschnell öffnende Falltür, die sich ins Nichts oder das Chaos öffnet…
So zeigt sich schnell, dass die Einspielung nicht auf Effekt oder Kontraste, sondern auf das Feine und Klangsinnliche der Musik setzt - und das bei genauer Umsetzung der Partiturangaben. Bei Seguin liegt hier das Berührende und Tiefe in der SCHÖNHEIT der Musik. Er hat mit dem Orchestre Metropolitian auch einen Klangkörper, der das wunderbar umsetzten kann. Alle Register sich ausgezeichnet besetzt: Streicher, Holz, Blech. Es gibt keine Schwachstellen. Allein der hohen Streicher scheinen nicht allzu viele zu sein, was aber eher an der sehr plastischen und ehrlich direkten Aufnahme liegen mag.
2. SATZ: Das erste Scherzo kommt in einem geschäftigen „tempo giusto“ daher. Alles ganz gut ausgespielt werden, nichts ist getrieben oder verhetzt, aber auch nichts behäbig breit. Die Trios sind durch den etwas flackernden Klang (mit Drückern und Schwellern) der ersten Violinen per se nicht sehr ruhig, was aber von Seguin wohl auch gar nicht beabsichtigt war. Die nötige Entspannung stellt sich aber zentrales Stellen dennoch ein. Am Schluss gibt es ein mäßiges accelerando.
3. SATZ: Das Purgaturio erklingt ohne Absicht, einfach nur den Bedürfnissen der geheimnisvollen Musik folgend. Sehr große Klarheit alles Stimmen – bis zum Solo der Kontrabassgruppe. Nicht so sehr „huschend“, aber ungemein farbig.
4. SATZ: Das zweite Scherzo ist mir persönlich stellenweise etwas zu wenig in der Tonregie gestaltet. Das mag auch an der Noblesse des Dirigats und der Wirkungsabsichten Seguins für den Tonträger liegen. Dieser ist sehr darauf bedacht, alle billigen Effekte oder eine Kaleidoskop-Artigen Flickenteppich mit vielen erregenden kleinen Einzelereignissen zu vermeiden. So wirk das zweite Trio (ab Takt 291) z.B. wirkt nicht schmalzig oder süßlich. Dieser Satz HAT allerdings etwas sehr grelles, und das Orchester kann das auch wunderbar spielen. Das ist durchaus zu hören. Wirklich unerwartet brutal kommt allerdings der Schluss-“Schuss“ der großen Militärtrommel, der bei Mahler (oder besser: Cooke?) nur mit f angegeben ist. Natürlich sind viele Angaben immer wieder des Überdenkens wert, weil wenig davon von Mahler selbst stammt.
5. SATZ: Die Härte der Schläge setzt sich im Finalsatz unvermindert fort. Das Flötensolo in ungemein inniglich mir ganz weichem zurückgenommenem Ton ohne jedes nach außen gerichtete Espressivo. Der Aufbau der wunderbaren Gesangslinie (deren halber wohl Alma Mahler doch die endgültige Zustimmung zu Aufführungen der Cooke-Version gab) vollzieht sich bis zum Takt 72 langsam und stetig. Das allegro moderato (ab Takt 84) hat keinen Bruch zum ersten Teil des Satzes, zeigt viele Farben und Polyphonie. Diese Stelle ist in vielen Aufführungen und Einspielungen nicht so gut gelungen. Auch das letztmalige Eintauchen in eine „Wunderhornwelt“ von dem letzten Ausbruch, der den im ersten Satz aufnimmt ist absolut stimmig. Der Ausbruch selbst bekommt durch die Beachtung der Dynamik eine ganz andere Farbe. Mir ist bewusst, dass diese Dinge alle von Cooke und Goldschmidt stammen, aber das Werk IST nun mal eine Gemeinschaftskomposition von mehreren Menschen und als solche genauso ernst zu nehmen, wie wenn nur der Name Mahler als Autor stehen würde.
Den großen Abgesang beginnt Seguin verhalten und dennoch klar. Die Ruhige Stelle von dem letzen großen Aussingen gerät fast zu verhalten, aber die Musik bekommt eben durch die folgende Emphase noch gut „die Kurve“. Am Ende können nochmals Horn, Klarinette, Flöte und Bassklarinette alles an Klangmöglichkeiten zeigen. Und die wenigen Streicher. Interessant, dass Mahler die letzte Minute da keine Oboe mehr einsetzt … Als ob alles Klagen und die Qual des Individuums nun vergangen sei … Bis zum letzten großen Ein- und Ausatmen (wunderbare Streicherfarben!) ein ganz großartige Aufführung !!!
YANNICK NEZET-SEGUIN
Dass der „Shootingstar“ Seguin oft als „oberflächlich“ dargestellt wird, kann ich – zumindest hier – nicht nachvollziehen. Ich fand schon manche Kritik an den Schumann-Sinfonien unverständlich oder überzogen. Natürlich werden Dirigenten, die so eine steile Karriere wie Segiun machen (durchaus auch mit Unterstützung der Marktmechanismen) besonders kritisch beäugt und „behört“. Aber es ist zu unterscheiden zwischen persönlichem Geschmack und wirklichen Mankos. Bei dieser Einspielung wird seriös musiziert, alles hat Plan und Proportion, es sind die Struktur und viele Details zu hören. Man spürt deutlich, dass sehr intensiv am sehr diffizilen Werk gearbeitet worden ist, denn allzu oft wird das Orchestre Metropolitain die Zehnte noch nicht gespielt haben …
AUFNAHMEKLANG UND EDITORISCHES
Den Klang der Aufnahme (Oktober 2014) haben die Tontechniker des Labels „Atma classique“ gut eingefangen. Die ersten Violinen klingen tendenziell etwas nah, was manchmal den Eindruck von (zu) wenig Spielern hervorruft und hie und da minimal das Gefühl von Inhomogenität erzeugt und somit ansatzweise Unruhe schafft. Dieser Punkt bewegt sich aber schon eher im Bereich subjektiven Empfindens. Die Darstellung des Orchesters ist räumlich (mit angenehmer und klarer Akustik), die Ortbarkeit der Instrumente möglich und die Abbildung der Klänge füllig und farbig. In den Tiefen oder Höhen gibt es keine Beschneidungen. Im fünften Satz ist übrigens bei 16:50 ist übrigens deutlich en schnitt zu hören – angesichts der technischen Glanzleistung der Veröffentlichung ein zu vernachlässigendes Manko.
Die Aufmachung der CD optisch ansprechend. Text nur auf Französisch und Englisch, was aber vielleicht so schlimm ist. Beim Querlesen ist mir gleich aufgefallen „90% der Komposition hat Mahler vollendet“. Da scheint jemand nicht allzu differenziert zu schreiben … Die Musiker sind alle namentlich aufgeführt, was mir persönlich immer sehr gefällt. Wenn ich etwas musikalisch und klanglich Besonderes im Orchester höre, behalte ich mir gern die Namen der Spieler.
KAUFEMPFEHLUNG
Eine unbedingte Kaufempfehlung. Als Exemplar einer klaren, sorgfältigen und ausgewogenen Interpretation der „Zehnten“ durchaus Referenz! Ich wollte diese Einspielung nicht mehr missen wollen – trotz der Aufnahmen von Goldschmidt, Cooke und Martinon (die mit den CSO).
- - - - -
Über ein Feedback (Bewertung JA oder NEIN, Kommentar - wie und welcher Art entscheiden natürlich SIE!) zu meinen Bemühungen des Rezensierens würde ich mich freuen! Lesen Sie gern auch andere meiner weit über 200 Klassik-Besprechungen mit Schwerpunkt "romantische Orchestermusik" (viel Bruckner und Mahler), "wenig bekannte nationale Komponisten" (z.B. aus Skandinavien), "historische Aufnahmen" und immer wieder Interpretationsvergleiche und für den Kenner bzw. Interessierten meist Anmerkungen zum Remastering