Der Erdrutsch
Eduard Hanslick soll nach einer Aufführung des Tschaikowsky-Violinkonzerts gemeint haben, dass man nach dieser Musik den Saal lüften müsse. Nun ja. Ich liebe dieses Konzert seit meiner Kindheit. Es ist das erste Violinkonzert, in das ich mich hoffnungslos verliebt habe, Brahms und Sibelius kamen danach. Das Problem ist leider nur, den Reißer ernst, aber nicht zu ernst zu nehmen und eben nicht billig als Reißer zu spielen.
Ich erinnere mich nur zu genau, dass Mitte der Achtziger Kunde aus Moskau kam. Eine junge Dame, Viktoria Mullova, habe den Tschaikowsky-Wettbewerb triumphal gewonnen, das Violinkonzert quasi wie einen Erdrutsch hingelegt, Publikum wie Jury seien überwältigt gewesen. Kurz danach wanderte sie in den Westen aus, wurde Künstlerin der Philips. Dieses war ihr erstes Album.
Ich habe mir das Album damals sofort gekauft. Im Widerstreit zwischen der LP mit den Problemen der Rille in Etikettnähe bei 35 Minuten Musik auf einer Seite habe ich mir die CD gekauft. Ich habe dieses Album spontan geliebt und zigmal gehört.
Nur am Rand: bei den Berliner Festwochen 1995 gab es ein Doppelkonzert der Berliner Philharmoniker unter Mariss Jansons, in dem Viktoria Mullova im ersten Teil das Tschaikowsky-Konzert gespielt hat. Ich durfte beide Konzerte erleben. Frau Mullova konnte das live mindestens so überwältigend wie auf der Einspielung.
Ich stehe audiophilen Veröffentlichungen wie dieser aufgrund ihrer meist exorbitanten Preise eher reserviert gegenüber. Ich habe hier die Ausnahme gemacht und das Album bestellt, da es eine meiner zehn Platten für die Insel ist.
Im Karton von jpc fand ich zunächst die erbetenen 5 Innenhüllen vor (vielen Dank für die freundliche Dreingabe an jpc) und die bestellte Ware in einer Hülle aus dicker Klarsichtfolie mit überstehender Lasche mit Adhäsionsklebestreifen zum Öffnen und wieder Verschließen vor. Die geschlossene Klebelasche war von Analogphonic mit einem blauen Klebebutton versiegelt. Das Siegel war eindeutig gebrochen. Mir ist nicht bekannt, warum ich die bestellte Ware mit gebrochenem Siegel erhalten habe und wer warum das Siegel gebrochen hat.
In dieser Tasche befand sich das Produkt selbst, zu meiner Erleichterung originalversiegelt. Der Inhalt war eine Doppeltasche, also jede LP in einer Tasche für sich. Die beiden Innenseiten der Papphülle zeigen ganzseitig zwei sehr schöne Fotos der Solistin.
Beide LPs befinden sich in Papierhüllen, die mit antistatischer Folie ausgekleidet sind. Die LPs rollen vorbildlich heraus und hinein, statische Aufladung ist völlige Fehlanzeige.
Die LPs sind so plan, wie es nur geht. Alle vier Seiten enden mit der Rille mit Musik in deutlicher Entfernung vom Etikett, keine Gefahr einer Verzerrung.
Es wurde damals bei der Erstveröffentlichung zu recht bemängelt, dass ein Saalrumpeln nicht zu überhören sei.
Ich habe beide LPs über eine Anlage gehört, deren Herzstück ein Accuphase-Verstärker ist, der Rest auf gleicher Höhe. Die Technik sollte dem Ereignis angemessen sein.
Es liegt ein völlig neues Re-Mastering vor, durchgeführt von den Emil-Berliner-Studios. Sie fallen mir schon seit Jahren sehr positiv auf. Etliche Alben der Damen Kozena und Petibon mit dem Venice Baroque Orchestra aus Toblach sind beispielhaft abgemischt. Auch die 2. und 3. Mahler von Bernstein aus New York sind an klanglicher Durchhörbarkeit vorbildlich, das auf CD. Die neuen Abmischungen beider Konzerte sind absolut meisterhaft, da kann selbst MFSL noch etwas lernen. Das Saalrumpeln ist nicht wiederzufinden. Die Breiten- und Tiefenstaffelung des Orchesters sind einzigartig. Ich habe nie einen Tonträger gehört, in dem die Instrumente so hörbar und fühlbar Körper haben. Nicht nur die Streicher, auch die Holzbläser haben unglaublich Körper. Der Einsatz der Flöte nach der Kadenz beim Tschaikowsky läßt das Holz des Instruments förmlich spüren. Es ist über vier Seiten hinweg nur allerreinste Musik. Klar, kristallklar wie ein Gebirgsquell ganz oben in den Alpen. Unter meinen wohl über 1000 Tonträgern habe ich nur ein einziges Vorgängerbeispiel solcher Qualität. Das ist die MFSL-Ausgabe von Karajans Berliner Puccini-Boheme. Diese gab es Ende der Achtziger, limitiert und einzeln numeriert, für damals teure 85 DM. Auch hier eine unglaubliche Klangwirkung, allein die Räumlichkeit im 3. Akt vor dem Auftritt der Mimi, wenn das Orchester die berühmten Quinten-Parallelen spielt. Die Klangqualität beider hier vorliegenden LPs übertrifft selbst die blu-ray mit "John Williams live in Vienna", und das ist wirklich eine Leistung!
Ich kann zu dieser sehr teuren Doppel-LP der Viktoria Mullova nur sagen: hier machen die Ohren aber wirklich Augen! Wer diese Musik mag, unbedingt zugreifen!