Mehr Barenboim als Elgar
Warum dirigiert Barenboim Elgar? Welches Bild vom Komponisten und seinem Werk will er dem Publikum nahebringen? Vor 40 Jahren hat Barenboim schon einmal Elgar 2 aufgenommen. Schon die ältere Aufnahme lässt mich ratlos zurück. Bei der soeben erschienenen Neuaufnahme ist es nicht anders. Elgars Musik klingt unter seiner Leitung immer irgendwie so, als könne er im Grunde wenig mit ihr anfangen. Hat er im London der 70er Jahre einen Elgar im weichgewaschenen Kitschmodus dirigiert, der bestens als Untermalung zu einer David Hamilton-Schmonzette gespasst hätte, so wird nun stramm durchmusiziert, wobei die mosaikartige Struktur des Elgar'schen Idioms in weiten Teilen ignoriert wird. Nun wieder - wie schon vor 40 Jahren - eine höchst idiosynkratische Herangehensweise an das Werk. Idiosynkrasien schrecken mich nicht zwingend ab, wenn sie etwas erhellen. Doch hier erlebe ich lediglich den starken Wunsch, etwas neu und anders zu machen, dem Werk einen ganz individuellen Stempel aufzudrücken, ohne dass Barenboim es schafft, diesen seinen Elgar aus seinem Inneren nach außen zu transportieren.
Bereits die Lesart des ersten Satzes will sich mir nicht erschließen. So wird der erste Takt nicht als leicht verzögerter Auftakt, als schwebender Moment vor dem Sprung ins "Allegro vivace" genommen, sondern es geht vom Einsatz an enorm flott los. Das erinnert mich im ersten Moment an Elgars eigene Einspielung aus dem Jahre 1927, die ja ungeheuer schwungvoll daherkommt. Doch bei Barenboim erlebe ich in Folge keinen Schwung, sondern eine Eile, die weniger Lebendigkeit (vivace!) vermittelt als Hektik. Entsprechend musiziert Barenboim scheinbar sorglos über die reichhaltigen Hinweise Elgars zur Artikulation, zur Dynamik und zum Tempo hinweg. Ist Elgar 1927 trotz des hohen Tempos vollkommen Herr der Lage, so entwickelt sich dieser Eindruck in Bezug auf Barenboim nicht so recht. Elgars hohe Kunst ist es ja, seine eigene Musik vollkommen natürlich fließen zu lassen. Er ist ein Meister des Rubato und der schlüssigen Entwicklung eines Gesamtbildes. Barenboim - zumindest hier - nicht. Auf der einen Seite neigt er zum Zuviel, auf der anderen findet sich immer wieder ein Zuwenig. So drosselt Barenboim zwar gegelgentlich das Tempo, dann aber so stark, dass der Fluss der Musik vollkommen zum Erliegen kommt. Das lässt sich schon gut zu Beginn der Durchführung hören (Ziffer 24), die sich kaum zu bewegen scheint, und dann immer wieder, besonders deutlich aber gegen Schluss (und die Ziffer 63 und 64 herum), wo ich das Gefühl habe, Barenboim sei gerade einmal vor die Tür gegangen und das Orchester warte darauf, weiterspielen zu dürfen.
Zwischendurch – also in der Durchführung selbst - im Wesentlichen nach meinem Dafürhalten Scheiterndes. Die Durchführung lebt doch vom Auftauchen des „malign influence“, vom dezidiert Unheimlichen, das da auf die sprudelnd-leidenschaftliche Musik der Exposition folgt. Doch das Unheimliche stellt sich nicht ein. Statt eine Atmosphäre latenter Bedrohung herauszuarbeiten, lässt Barenboim die Celli das besagte böse Thema lediglich voll des hohlen Pathos schluchzen. Anschließend scheint er sich auf die Gestaltung einzelner Takte zu konzentrieren. Das ist ja an sich auch eine Möglichkeit, könnte man auf diese Weise doch die mosaikartige Kompositionsweise Elgars, wie sie Diana McVeagh beschrieben hat, erhellen. Aber das, was im Kompositionsprozess einzelne Mosaiksteine waren, muss im fertigen Satz wieder zu einem Gesamtbild amalgamiert werden. Und das gelingt Barenboim meines Erachtens nicht. Selten haben ich eine Wiedergabe dieses Satzes gehört, die mir so durch und durch leer vorgekommen ist.
Im Larghetto geht es im Prinzip so weiter. Nach einem schönen Einstieg und 18 wirklich intensiven Takten scheint der Gestaltungswille verpufft zu sein. Das herrliche Streichermotiv ab 5 nach Ziffer 68 gestaltet Barenboim ohne jeglichen Aufschwung, das anschließende Posaunen-Motiv, das manch ein anderer Interpret wie einen düsteren Ruf zum letzten Tag spielen lässt, hier erscheint es ohne jegliches Gewicht. Der Satz ist bei Barenboim durchweg ohne jene Tragik, von der geradezu existenziellen Hoffnungslosigkeit, die beispielsweise Sinopoli hier herausschält, gar nicht zu reden. Es geht so weiter. Bei der Vorstellung des zweiten Themas spielen Violinen und Bratschen scheinbar unbeteiligt nebeneinander her, die große Steigerung ab Ziffer 74, die Boult mit so ungeheurer Sicherheit aufbauen kann und der Sargent einen geradezu unwiderstehlichen Sog verleiht, wirkt auf mich ohne jegliche Motivation, ohne den Blick auf ein Ziel hin. Es überrascht insofern nicht, dass sich bei Ziffer 76 ff ein "Nobilmente" nur mit viel Liebe hören lässt und dass auch die eigentliche Klimax des Satzes bei 86, dort, wo die hohen Streicher gemeinsam im Fortefortissimo, mit Vibrato und eben „molto espressivo“ den letzten glanzvollen Moment des Satzes herausjubeln sollen, bevor der Satz in endgültige Dunkelheit versinkt, verpufft.
Das Rondo beginnt Barenboim erneut in einem furiosen Tempo. Von dieser Idee abgesehen, kommt dann nicht mehr viel, was mich mit dem bislang Gehörten versöhnen könnte. Denke ich an Solti, an die lärmende Brillanz, die dieser Satz haben kann, an Sargents grandios böse Brachialität in der „Maud“-Passage, an den Furor Swetlanows und an die elegante Agilität Ormaos, so drängt sich mir die Frage auf: Kann man da nicht mehr daraus machen, als den Satz eben schnell zu spielen? Ich meine: Elgar notiert ja Presto. Aber wo ist der packende Zugriff? Wo ist die Spielfreude? Warum klingt das so schwerfällig? Wo ist das Koboldhafte? Wo der spontane Wechsel im Tonfall (z.B. bei 106, Holzbläser)? Wo das „Gehämmer“ (Elgar), das in der besagten Tennyson-Passage alle Musik totschlagen soll? Ich zumindest höre davon nichts.
Das Finale beginnt Barenboim mit einer schönen, heiter-gelassenen Vorstellung des ersten Themas. Gut klingt das. Doch es ist wie im Larghetto: Nach wenigen Takten fehlt der Biss. Das zweite Thema wird in einer eigentümlich eilig-verschmierten Art eingeführt, dem Richter gewidmeten „Hans himself“-Thema fehlt vollkommen die große Geste, die kraftvolle Größe. Ich will es kurz machen. Der ohnehin nicht ganz leicht zu gestaltende Satz gelingt nach meinem Dafürhalten - aus ähnlichen Gründen wie der erste - nicht. Kein Blick für das große Ganze, eine gewisse Ziellosigkeit des Musizierens, eine streckenweise enorm zählzeitenlastige Artikulation, viel Vertikale, wenig Horizontale, der an sich hymnische Höhepunkt (nach 165) ohne Biss, eine im Tempo enorm zähe überdehnte Coda.
Mein Fazit? Ich freue mich natürlich über Barenboims Einsatz für Elgar hier in Deutschland. Aber – ich kann es nicht anders sagen – sein Elgar sagt mir nichts. Gar nichts.