unerhört und persönlich
Mark Wigglesworth Aufnahmen der Sinfonien Schostakowitschs sind als Einzelaufnahmen tatsächlich meiner Aufmerksamkeit entgangen. Vielleicht aus einer Mischung aus Erfahrungswerten (z.B. mit BIS), Vorurteilen (ein doch recht junger Dirigent für diese so heftige inhaltsschwere Musik) und nicht genügend Interesse (bei der Konkurrenz von z.B. Mrawinsky, Kondrashin, Ormandy, Rostropowitsch, Haitink, Previn, Sanderling, Ancerl, Bernstein, Kurtz, Stokowski, Mitropoulos und einiger mehr). Wie sehr ich mich doch in all diesen drei Punkten geirrt habe ...
Was mich neben dem preislich für BIS-Verhältnisse relativ günstigen Angebot gereizt hat den Kauf doch zu wagen, waren die beiden zum Einsatz gekommenen Orchester: Das Netherlands Radio Philharmonic Orchestra (für die Sinfonien 1,2,3,4,8,9,11,12,13 und 15) und das BBC National Orchestra of Wales (für die Sinfonien 5,6,7,10 und 14) - und die Neugierde nach meiner guten Erfahrung mit Storgards Mahler Zehnten mal wieder BIS-SACDs zu testen.
Mark Wiggleworths (*1964) Dirigat ist in diesem Schostakowitsch Zyklus phänomenal. Die Aufnahmen sind zwischen 1996 und 2006 entstanden, als der Dirigent zwischen 32 und 42 Jahren alt war. Über das Hören der Sinfonien ist das Alter des Orchesterleiters nicht feststellbar - ja: kaum zu glauben. Natürlich spürt man den übergroßen Willen, Schostakowitschs Werken die größtmögliche Tiefe und Bedeutung zu geben - was man als jugendliches Merkmal sehen mag. Aber die Art und Weise, wie Wigglesworth das anstrebt und erreicht(!) ist mehr als ungewöhnlich für heutige Zeiten. Ich dachte an vielen Stellen an den alten kantigen Otto Klemperer, der unbeirrt an die Struktur des Stückes glaubt und für den Tempo "konstanter Fluss" bedeutet und nicht ein zusätzliches effektvolles Aufpeitschen. All das höre ich auch bei Wigglesworth. Ebenso die Tendenz Tempi eher breiter anzulegen (und Adagios nicht zu verschleppen!), damit die Orchesterstimmen sind entwickeln können und im polyphonen und kontrapunktischen Geschehen (was bei Schostakowitsch ja so oft bedeutungsvoll aufgeladen ist!) nichts verloren geht. Zudem ist die harmonische Entwicklung und alle diesbezüglichen Besonderheiten (oftmals mit dem Rhythmus in einer quasi Polyharmonie) fast körperlich greifbar - auch Dank des klaren, schlanken und sicheren (eben das gemeimsame HARMONIEHÖREN!) Klangs beider Orchester.
Es gibt wirklich ganz wenige Einspielungen, bei denen dieses klare Erleben und bewusste und gefühlte Hörbarmachen durch den Dirigenten so glückhaft gegeben sind! Mir fällt da außer Klemperer (z.B. ganz stark im Kopfsatz der Mahler 7ten) nur noch Wyn Morris mit seinen Mahler Sinfonien (besonders in Finale der 2ten, der 5ten und - phänomenal - in der 8ten) ein. Die ganz eigene Sprache der Harmonie ist so wichtig in Schostakowitsch Sinfonien. Hören Sie nur mal als Einstieg den dritten Satz aus der 10ten. Das ist noch nicht so heftig und gut geeignet sich gelassen ganz zu öffnen. Sie erkennen diese Sensibilität und Visionskraft der Musik überdeutlich - z.B. wenn der Streicher Dur-Akkord nach dem kleinen Hornmotto kommt. Da steht die Welt still und der Trost ist unendlich ...
Die Orchester spielen beide ausgezeichnet und können diese klanglichen,harmonischen und rhythmischen Anforderungen virtuos und klangsinnlich umsetzen. Es gibt keine Schwachstellen - weder im Tutti noch im Solistischen. Zudem sind auch die hervorragende Chorleistungen zu würdigen! Dieser Gesamteindruck mag sicher durch die extrem vorteilhafte Aufnahmetechnik unterstützt werden - dazu beim Abschnitt "Aufnahmetechnik" mehr.
Das Textheft hat der Dirigent Mark Wigglesworth für diese Gesamtbox 2021 selbst geschrieben - und wie! Persönlicher geht es kaum und somit ist er in seiner Deutung der Inhalte der Schostakowitsch-Sinfonien sicherlich auch angreifbar, besonders weil er sich zudem immer wieder auf die umstrittene Biographie "Zeugenaussage" von Solomon Volkow beruft.
Deren Originaltitel ist "svidetelstvo", was übersetzt laut Wikipedia "Aussage, Erweis, Bestätigung, Bescheinigung, Urkunde, Schein, Zeugnis oder Attest" bedeutet. Alle diese Begriffe sind schon Anregung per se ... In Deutschland erschien das Buch mit dem vollen Titel "ZEUGENAUSSAGE. Die Memoiren des Dmitrij Schostakowitsch". Die 1979 erschienene Biografie seitens der UDSSR-Seite sofort als Fälschung diskreditiert - quasi ein vom Westen initiiertes Machwerk um russische Werte zu beschädigen. Volkow sagte, dass die Aufzeichnungen nach vielen morgendlichen Gesprächen entstanden sind und der Komponist die schriftliche Form Volkows dann die kapitelweise beim jeweiligen nächsten Besuch abgesegnet hätte. Nachweisen lässt sich das natürlich nicht, was auch völlig verständlich ist, denn Schostakowitsch hätte sich bei Äußerungen außerhalb des heimlichen Bereichs des Vertrauens zu Volkow (dessen Zusicherung, diese extrem brisanten Dokumente erst nach seinem Tode veröffentlicht zu wissen!) in höchste Gefahr gebracht.
Wie gesagt - die WAHRHEIT kennt niemand. Aber der Musiker Wigglesworth glaubt offensichtlich daran (auch wenn er oft nur "Fragen" stellt) und erkennt für sich diesen Wahrheitsgehalt in der MUSIK des Komponisten! Es tut auch gut daran zu glauben, weil so der Mensch Schostakowitsch dem Hörer näher rückt und dieser beim Hören noch stärker Empathie empfinden kann. Die Interpretation von Mark Wigglesworth tut alles dazu, Schostakowitsch Musik in diesem Sinne erlebbar zu machen. Und da wirkt nichts aufgesetzt, übertrieben oder zu einem Zweck missbraucht. Und ist es nicht ein Segen, dass wir Nachgekommene über die Einzelheiten der Wahrheit im Unklaren bleiben und lernen und üben können, uns auf uns selbst und unser Gespür zu vertrauen und dabei immer wieder nachspüren und reflektieren müssen, was wir in die Musik Schostakowitsch hinein interpretieren oder "so oder anders haben wollen"? Eine Übung für das Leben an sich ...
Aufnahmetechnik:
BIS hat bei diesen Einspielungen eine extreme dynamische Bandbreite aufgezeichnet. Wo es aber bei anderen Aufnahmen mit solchem Dynamikumfang so ist, dass man die leisen Passagen nochmals viel lauter aufdrehen muss, um die Information wirklich zu verstehen, so hat die Musik hier (und wenn sie im ppp noch so leise erklingt) immer Körper, Farbe und auch Raumklang. Das Spektrum der Streicher ist schon beachtlich eingefangen, aber dann gibt es ja noch Holzbläser und Blechbläser - und zum Teil massivstes Schlagzeug, das auch in aller Heftigkeit und auch mal in aller Brutalität so klingen darf! Die Klangmassierungen sind immer wieder gigantisch - und dennoch wird es nie unangenehm hart oder undurchsichtig. Es ist klanglich immer Luft vorhanden (auch beim Orchesterspiel empfindet man diesbezüglich nicht die Grenze des Machbaren). Und die Schönheit des Klangs der Orchester, Register und der unzähligen kammermusikalischen Stellen und instrumentalen Soli ist in aller Plastizität erfahrbar.
Die Tonmeister beweisen höchste Inneneinsicht in die Klanglichkeit eines Orchesters im Allgemeinen (keineswegs eine Selbstverständlichkeit!) und die Besonderheiten bei Schostakowitschs Sinfonien im Besonderen. Wie tückisch und manchmal schier unmöglich ist es hier Durchsichtigkeit und gleichzeitig eine natürliche klangliche Balance (was durchaus immer wieder im Widerspruch liegen kann!) herzustellen. Möglicherweise hat da der Dirigent selbst im doppelten Wortsinn gehörig "mitgemischt". Das Ergebnis sind nahe sinnlich-klangliche Ereignisse und manchmal eine mikroskopisch sezierte Struktur, aber dennoch bleibt zumeist auch der Überblick, dass hier ein Orchester als Ganzes und in realem Raum erklingt.
Kleiner Warnhinweis: jetzt im heißen Sommer die Aufnahmen zu hören ist ein Problem, wenn man nicht gern einen Kopfhörer aufsetzt. Ein Rezensent hat geschrieben "vergewissern Sie sich, dass Ihre Nachbarn nicht zuhause sind" ... und dieser Gedanke der Aufmerksamkeit ist hier nicht unbegründet!
Ich möchte noch erwähnen, dass ich wegen eines Auswahldefekts meines SACD-Spielers bei hybriden SACDs derzeit nur die CD-Seiten hören kann. Aber wenn das Ergebnis dort schon so ungemein überzeugend ist, dann wird die SACD-Seite sicherlich nicht schlechter klingen.
Die Box ist fest und wertig gestaltet - und der Sinn des Fotos (Fotokollage) ist nach dem Lesen des Texthefts auch klar. Seltsam ist bei meinem Exemplar, dass die (bei BIS-Boxen ja nicht ungewöhnlichen einfachen Papierhüllen) ohne Kunststoff-Sichtfenster sind (DAS ist bei BIS ungewöhnlich!) und - völlig unsinnig - zudem auch unbeschriftet! Das heißt, dass man in diesem Zustand überhaupt nicht weiß, welche der 10 CDs man grade in der Hand hat. Abhilfe? Naja - einfach durch Hüllen mit Sichtfenster ersetzen ... Die Oberfläche der SACDs sind bei meinem Exemplar seltsam klebrig. Bleibt zu beobachten, ob es sich da um einen Produktionsfehler handelt ... Auch sind die Oberflächen zum Teil nicht ohne minimale Markierungen und zwei SACD haben leicht trübe Oberflächen. Ob ich da ein Vorabexemplar erwischt habe?
Apropos 10 CDs: das klingt für die 15 Schostakowitsch Sinfonien und angesichts der angesprochenen verwendeten Tempi schier nicht möglich. Zu Teil extrem überlange Spielzeiten machen es möglich:
CD1: Sinf.1,2,3 - 81:13 min... CD2: Sinf.4 - 66:44 min... CD3: Sinf.5+6 - 83:10 min... CD4: Sinf.7 - 79:20 min... CD5: Sinf.8 - 69:54 min... CD6: Sinf.9+14 - 82:10 min... CD7: Sinf.10 - 56:44 min... CD8: Sinf.11 - 63:41 min... CD9: Sinf.12+15 - 84:46 min... CD10: Sinf.13 - 62:22 min...
Bei Amazon gibt es übrigens ein paar exzellente (von wirklichen Kennern, auch wenn ich den Inhalten der Rezis manchmal widersprechen würde bzw. andere Schlüsse aus den Wahrnehmungen ziehe) englischsprachige Rezensionen.