Wunderbares, Wechselbäder und Willkür
Folgendes schreibe ich für denjenigen, die sich gerne von begeisterten Worten leiten lassen und dennoch vielleicht auch „Gegenstimmen“ für seine Kaufentscheidung hören möchte:
Meine klare persönliche Aussage: Celibidaches Mitschnitte (über das Drumherum ist hie ja genug geschrieben) der f-moll Messe (der eine von EMI und der andere von EXCLUSIVE veröffentlicht) zähle ich nicht zu den wirklich ganz großen Interpretationen des äußerst komplexen letzten Messe Bruckners. Da ich das aber nicht nur als "Meinung aus dem Bauch" verstanden wissen will, möchte ich ein paar Gedanken zu dieser Einschätzung ausführen.
INTONATION, INTERAKTION, FLUSS, VERHÄLTNISMÄSSIGKEIT, DER GROSSE BOGEN
Der Chor intoniert mir im Sopran teilweise einfach zu tief - das tut hie und da schon richtig weh. Zudem gibt es für mich bei Celi zu wenig „Interaktion“ zwischen Dirigent, Orchester und besonders dem Chor: Der eigenwillige Dirigent möchte mit Chor und Orchester etwas ganz bestimmtes in seiner Vorstellung erzwingen, ohne darauf zu achten, was im Moment des Geschehens zurückkommt. Das ist bei Celi ein generelles Problem. Natürlich entstehen daraus manchmal magische Momente (z.B. das „et resurrexit“, Momente im Benedictus z.B. in den Hörnern, die Stringenz und der Klang mancher Streicherfiguren) und auch hie und da wirklich Erkenntnisse, aber insgesamt finde ich das anhand der langen Durststrecken einfach zu wenig. Manches (wie z.B. das „cujus regni non erit finis“) ist mir beim Blick in die Noten auch einfach zu willkürlich und selbstherrlich. Der Dirigent als Komponist: gerne – aber doch bitte nur mit EIGENEN Werken …
Die "schönen Stellen" überzeugen insgesamt deshalb nicht und fügen sich nicht in das Ganze ein, weil sie als Stellen oder Abschnitte gedacht sind und auch nur so funktionieren können. Wenn der Abschnitt, die Stimmung, die gewollte(!) Aussage vorbei ist, dann gibt es einen Sinnbruch (äußerlich oft durch Tempo oder "Durchhänger" gekennzeichnet) zum Nachfolgenden und dem ganzen Satz / Werk.
Nochmals zum Thema Intonation und dem Verhältnis von Körperspannung zu musikalischem Fluss und Bogen (also auch die Spannung bis zum letzten Ton): Das funktioniert noch eher bei reinen Orchesterstücken, da der Instrumentalist die Physik des Instruments zur Hilfe hat, aber die menschliche Chorstimme macht das nicht mit. Das mag mit ein Grund sein, weshalb es hier so viele angestrengt klingende Stellen und Intonationsprobleme gibt. Die Chöre „singen sich fest“ … Natürlich sind hier Profis am Werk, somit betrifft es nur einige Stellen, da aber sehr schmerzlich ...
Ich persönlich finde zu seiner Art von Spiritualität in dieser durch und durch katholischen Messe keine Zugang: da ist mir zu wenig (schmerzliche) Innigkeit und heiterer Jubel: Gebeugtes Haupt, Niedergedrücktheit, Flehen, Gewalt vom Himmel schon, aber das ist doch nicht alles in dem Werk. Immer sind es "viele" - und nie fühle ich mich in meinem persönlichen Glauben und meiner ganz eigenen Spiritualität "gemeint", angesprochen und berührt. Alles erscheint mir wie unter einer trüben Glocke, die „gewaltig“ bremst. Das ist mir zu un-menschlich. Es entstehen auch Affekte um ihrer selbst Willen wie in einer Opernaufführung (wo sowas allerdings auch nicht passt!). Aber DAS ist wohl alles eine Empfindungs- oder Geschmacksache…
WERK-IMMANENZ
Celibidaches f-moll Messe ist äußerst breit angelegt, manchmal mit sehr willkürlichen Temporückungen, insgesamt jedoch sehr statisch anmutend. Alles erscheint sehr blockhaft und gemeißelt. Dazu sollte man aber das Entstehungsjahr bedenken: 1866 wurde die Erste Sinfonie (das „kecke Beserl“ – nomen est omen: bedeutet "ein junger frecher Bursch / Mädel") vollendet und auch der Übergang zur zweiten Sinfonie hat noch nichts mit dem teilweise Gewaltigen, Blockhaften der Dritten zu tun. Der frühere Stil Bruckners ist flexibel und „klassischer“ ausgerichtet. Die frühen Werke als spätere (ab 1873 oder noch später) „aufzublähen“, lässt sie unverhältnismäßig erscheinen und schmälert bzw. verdeckt das Wesentliche und Feine der großartigen Kompositionen. Sie haben das ganz und gar nicht nötig.
Keine Frage: manche Stellen gelingen bezwingend und haben einen ganz eigenen Zauber, aber genau das GANZE, der große Bogen wird in Celibidaches Einspielung (und ebenso dem Live-Mitschnitt) nicht erreicht.
MEINE EMPFEHLUNGEN
Wer es wirklich spirituell tief empfunden UND menschlich berührend mag, der ist bei Jochum und Davis gut aufgehoben. Natürlich ist auch bei den beiden nicht alles perfekt oder absolut stimmig (z.B. ein paar Temporückungen bei Davis), denn das Werk ist einfach eine große Herausforderung.
Wer es gut proportioniert und möglichst „perfekt“ in der Durchsichtigkeit und Umsetzung haben möchte, der greife zu Best oder evtl. auch Herrweghe. Und wer es innig UND schlank zügig haben möchte und sich an sympathischen Schwächen des Ensembles nicht stört, der ist mit der alten Forster Einspielung gut bedient. Aber DER ist wohl am allerweitesten Weg von den Visionen Celibidaches ...
Mal sehen, wie viele NEIN ich mir mit der „Celi-Kritik“ einfange ... : - )