Dem Vergessen entrissen
Charles F. Adler (1889 London -1959 Wien) war einer der markanten und „unangepassten“ Dirigenten des 20ten Jahrhunderts. Er arbeitete noch mit Gustav Mahler zusammen und hinterließ auch Ersteinspielungen von dessen 3ten und 6ten, die heute noch Ihresgleichen suchen. Zudem war er Musikverleger und Gründer des SPA-Records-Labels, welches für damalige Zeit extrem mutig ein eher oder gänzlich unbekanntes Repertoire aufnahm: Bruckners damals eher unbekannte Werke (6te, Ouvertüre, 1te Messe), ebenso Mahlers 3te, 6te, 10te, Schnabel als Komponist, Ives, Antheil und viele andere amerikanische Komponisten.
Diese 5CD-Box hier versammelt Bruckner-Aufnahmen Adlers, die noch nie offiziell auf CD veröffentlicht waren und allesamt als wichtige Tondokumente zur Rezeption Bruckners (schon allein wegen der Fassungen!) einzustufen. darüber hinaus aber auch nach wie vor in der Interpretation und dem „Wahrheitsgehalt“ überzeugen und herzlich ergreifen.
Natürlich ist es heutzutage, wo wir die Vielschichtigkeit von Bruckners Absichten bezüglich seiner Sinfonien besser verstehen, nicht leicht, die überholten Fassungen ohne inneren Widerstand zu hören. Bei der Sechsten muss man an drei vier Stellen die Ohren etwas „anlegen“ und noch stärker erweisen sich die instrumentalen Eingriffe durch Loewe in der Neunten, die Bruckner so wohl nicht autorisiert hätte – zumindest bestimmt keinesfalls für die „Nachwelt“!
Adlers Wahrhaftigkeit des Musizierens mach aber wieder viel wett. Wenn er auch die „Originalfassungen“ noch kennengelernt hat, so hat er im Gegensatz zu Furtwängler den Wandel zu diesen nicht vollzogen. Bedenken wir, dass er durch diese zweifelhaften Fassungen zu Bruckner gefunden hat und wir nicht wissen, was ihn bewogen hat nicht von diesen zu lassen…
Die Erste ist ja in der Wiener Fassung durchaus interessant und die Dritte in der Version der vorliegenden Aufnahme zumindest des Nachdenkens wert, weil es eine interessante Mischfassung darstellt.
Messe Nr.1 d-moll
Unerreicht! Schon das Kyrie macht erschreckend betroffen. Wie ein Dirigent das Ganze (Solisten Chor Orchester) so zu einer Einheit an Wahrhaftigkeit und Empfindung bringen kann. Ganz selten gibt es solch eine Aufführung einer Messe, bei der der Sinn des Ganzen – der Glaube – im Vordergrund steht.
Dagegen verblassen leichte Schwächen der Solisten (z.B. Schärfen des Tenor im Benedictus – aber überzeigender stark an Hans Hotter erinnernden Frederick Guthrie!) und die Tatsache, dass der Chor ein „ordentliches“ Vibrato pflegt (worauf ich sonst sehr allergisch reagiere).
Was es hier Berührendes zu hören gibt: Kleine Übergänge, Modulationen - unerhörte harmonische Welten, die deshalb hervortreten, weil der Dirigent sie innerlich ganz klar hört. Adler gibt bezüglich der Tempi Raum, das sich alles so entfalten kann, dass man es als Hörer auch empfinden kann. Bis auf das Agnus Dei brauchen die Sätze mehr Zeit als bei Eugen Jochum, dessen Einspielung mir bisher am überzeugendstem erschien. Was steckt in dieser Komposition an Visionärem! Wer meint der frühe Bruckner wäre noch harmlos gewesen, der höre sich mal hier das „Resurrexit“ an!
Die natürlich monaurale Aufnahme klingt gut (natürlich mit eingeschränkter Dynamik und wenig räumliche Tiefe – also einem etwas flachem Klang) und hat eine sehr gute Balance. Manchen mag vielleicht stören, dass der Chor sehr nah abgenommen ist, was sich besonders deutlich bei den Frauenstimmen zeigt. Dadurch ergibt sich aber trotz der ungeheuren Wucht mancher Stellen eine große Intimität, was das tief empfundene „Gebet“ noch verstärkt. Der Frequenzgang ist nicht unangenehm eingeschränkt und es gibt keinen störendes Rauschen usw.
Ouvertüre g-moll
Bruckner einerseits schon ganz und gar persönlich – und dennoch ganz in der Welt von der Romantik (z.B. Schumann). Von diesem wunderbaren leider selten gespielt Konzertstück Bruckner gibt es in wenigen Einspielungen. Die m.E. Interessantesten sind die von Matacic, Otterloo und Shapirra. Die vorliegende Adler-Aufnahme (SPA) klingt leider nicht so gut wie die erste Sinfonie (Unicorn). Wie bei vielen Einspielungen der Wiener Sinfoniker dieser Zeit klingen die Violinen doch recht kratzig, scharf und etwas zu direkt abgenommen. Die Interpretation Adlers favorisiert das „Große“ der Musik, bleibt aber dennoch straff in den Tempi und absolut klar in der Artikulation. Eine Einspielung mit Phantasie, Feuer. Der CD-Transfer ist wohl optimal, denn die Balance der Frequenzen stimmt (die Bässe kommen nicht zu kurz).
Sinfonie Nr. 1 c-moll
Heute beugt man im Allgemeinen nicht mehr die Tempi der verschiedenen Themen so stark, wie Adler es in der Ersten wagt. Doch was für ein Gewinn diese Aufführung daraus zieht: Ein stürmisch drängendes erstes, ein sehnsuchtsvoll retardierendes zweites und ein wahrlich majestätisches drittes Thema. Bei den meisten Dirigenten würde so etwas willkürlich wirken, nicht so bei Adler. Bei allen Aufnahmen Adlers die ich kenne wirken solche Temporückungen aus einer starken inneren Stringenz. Ein wirklich großes Adagio und ein raffiniert farbiges äußerst abwechslungsreiches Scherzo. Ein visionäres Finale in kompromissloser vielschichtiger Gestaltung, das die Wiener Sinfoniker (auf der originalen LP „Wiener Sinfonie Orchester“ genannt) bis an die Grenzen (und kaum darüber hinaus) fordert.
Spannend ist hier auch die Hynais-Ausgabe (im Grunde die „Wiener Fassung“) der Sinfonie, 1893 von Doblinger herausgegeben. Die Abbado-Einspielung der letzten Jahre ist eine spannende Alternative, weil sie ganz andere Aspekte des Werks zeigt. Wenn bei Adler stark das Phantastische der „Linzer“ Erstfassung durchkommt (gewürzt mit der unglaublich verfeinerten Orchestrierungskunst des späten Bruckner), so hört man bei Abbado tatsächlich mehr den späten Bruckner.
Der Klang der Aufnahme überzeugt noch mehr als bei der Messe. – eine wunderbar klingende Mono-Aufnahme von 1955 (Unicorn, die Remastering-Quelle ist das Masterband) in bestem „österreichischen Klang“.
Sinfonie Nr. 3 d-moll
Dies ist die Studioaufnahme Charles F. Adlers der „Wagner-Sinfonie“ Bruckners. Es gibt auch einen Livemitschnitt vom 8.4.1953, (ebenfalls bei M&A, gekoppelt mit der Studioaufnahme der Zweiten Mahler - ASIN: B009CZB062).
Die hier vorliegende Studioaufnahme ist für SPA-Records entstanden. Die Quelle für das Remastering ist ebenso wie bei der Neunten eine LP. Somit ist der Klang minimal dünner und „unschärfer“ als bei der ersten Sinfonie, aber für die Tatsache eines LP-Transfers dennoch ausgezeichnet.
Hier ein Vergleich der Spielzeiten der Studioaufnahme (S) mit dem Livemitschnitt (L):
1.Satz: S 21:22 / L 18:59 – 2.Satz: S 13:25 / L 12:01 – 3.Satz: S 6:43 / L 6:07 – 4.Satz: S 12:49 / L 12:07
Unschwer ist zu erkennen, dass die Studioaufnahme der Sinfonie mehr Zeit und die Liveaufnahme wesentlich gedrängter ist. Das grenzt an ein anderes Konzept.
Zu hören ist beides Mal die Rättig-Ausgabe, die gegenüber der heute immer noch so häufig gespielten letzten Fassung doch ein paar Vorzüge hat. Auch sie basiert auf Bruckners letzter Überarbeitung (besser „Zusammenstreichung“) von 1889, behält aber ein wenig von der meiner Meinung nach sehr gelungenen zweiten Fassung von 1877-78 bei.
Auf der Schallplatte gibt es einige magische Momente des Stillstands und „Fernhörens“, ein „runder“ eher abgeklärter Bruckner.
Bei der Liveaufnahme von 1953 ist die Streicherbewegung zum Hauptthema sehr unruhig und aufgeregt (beim ersten Mal auch etwas durcheinander). Die Musik ist etwas mehr auf „Sprache“ angelegt und betont mehr das experimentell Phantastische des ehrgeizigen Werks. Beide Sichtweisen überzeugen gleichermaßen, wobei mir das manchmal eckig Widerspenstige der Liveaufführung sehr zusagt. Hier gelingt eine immer wieder beeindruckende Klangrede mit viel rhythmischen Schwung an den richtgien Stellen.
Sinfonie Nr. 6 A-Dur
Dies ist der Livemittschnitt (wohl 1952, da laut Textheft das erste Brucknerdirigat Adlers mit den Wiener Sinfonikern) Adlers der Sechsten Bruckner in der Loewe-Ausgabe - also wieder eine Besonderheit, was das verwendete Notenmaterial angeht. Es gibt auch eine Studioaufnahme von 1952, (bei Tahra, gekoppelt mit der Studioaufnahme der Ersten Mahler - ASIN: B00000662J).
Der hier vorliegende Livemittschnitt wurde vom Österreichischen Rundfunk mitgeschnitten. Der Klang der Aufnahme ist ausgezeichnet. Weder die Balance, Klangfarben (Frequenzspektrum), Unsauberkeiten im Orchesterspiel, noch irgendwelche Nebengeräusche lassen eine Rundfunkproduktion erahnen. Wenn ich den Text recht verstanden habe, handelt es sich ja auch um keine Liveaufführung mit Publikum. Neben der Ersten ist dies die am rundesten klingende Aufnahme. auch die Streicher hört man hier als homogene Einheit. Eine starke Alternative zu der ebenfalls gut und äußerst klar, aber auch etwas schärfer klingenden Studioaufnahme. Hier wieder der Vergleich der Spielzeiten des Livemittschnitts (L) mit dem Studioaufnahme (S):
1.Satz: L 16:17 / S 16:04 – 2.Satz: L 17:16 / S 17:02 – 3.Satz: L 10:46 / S 10:38 – 4.Satz: L 14:22 / S 14:17
Dieser Livemitschnitt weicht also hier bei weitem nicht so sehr in den Spielzeiten von der Studioaufnahme ab wie im Fall der Dritten. Eine schöne, natürliche tief empfunden Aufführung, die ganz oben im Feld einiger bemerkenswerter bis ausgezeichneter Aufnahmen und Mitschnitte mitspielt (G.L. Jochum, Andreae, Swoboda, Rosbaud, Keilberth, Klemperer, Steinberg, 2x Solti, Blomstedt / San Francisco). Die auffälligen Besonderheiten der Löwe-Ausgabe sind manche „p-f Crescendi“ anstelle „subito f“ (Kopfsatz), also das Abmildern mancher Brüche und die Abänderung des Schlusses des Trios des Scherzos. Größere Eingriffe wie in der Neunten gibt es hier nicht, aber eine Anzahl kleinerer Modifikationen (auch im Tempo), u.a. auch Retuschen von Adler.
Sinfonie Nr. 9 d-moll
Auch hier wieder eine heute nicht mehr gespielte Fassung (Loewe 1903) mit so manchen Retuschen. Vor 25 Jahren hätte mich so etwas sehr gestört, heute bin ich da milder gestimmt. Ich sehe den Wahrheitsgehalt der Musik wie meist bei Adler auch in dieser Aufführung in allererster Linie der Hingabe, Überzeugung und Vision des Dirigenten vom Stück. Und es ist durchaus Bruckner, den man hier hören kann! Eine Aufnahme der extremen und abgründigen Stimmungen.
Der Kopfsatz lässt mich ein Phänomen erleben, das ich schon bei der dritten Mahler im ersten Satz hatte: Die Musik wirkt äußerst lebendig, abwechslungsrech, rhythmisch (mit äußerst drängenden Passagen), Welten entstehen und vergehen – und dennoch sind es die zeitlich breitesten aller Aufnahmen (hier 29 min für den ersten Satz - na klar, Celibidache braucht mit den Münchenern natürlich 32 min … ). Wie gerne hätte ich die Katastrophe des ersten und letzten Satzes mit Adler und einem englischen oder amerikanischen Orchester gehört, sodass das innere Erleben Adlers sich auch ganz und gar in physischem Klang entladen könnte. Auch gut - so bleibt halt die Sehnsucht ungestillt…
Im Scherzo hat Löwe doch ein bisschen viel „arrangiert“ und Bruckner ein wenig von der Modernität weggenommen. Warum Adler bei den Aufnahmen nicht zu der Orel-Ausgabe gegriffen hat? Manche Geheimnisse bleiben eben bestehen… Sehr flexible freie Tempi im Trio (ein sehr langsamer Teil im „ziemlich schnell“). Aber wieder wirkt nichts „gewollt“ oder aufgesetzt, sondern ganz und gar extrem empfunden. Hier kann ich auch verstehen, warum es die Löwe-Ausgabe sein musste.
Das Adagio voller Wärme, Sehnsucht, Visionen und grässlicher erschreckender Klänge. Neben Klemperer war Adler vielleicht DER Dirigent für solche (Dis)Harmonien. Wie in der Mahler Dritten mit Adler „klingen“ auch hier Töne und Akkorde weiter, die gar nicht da sind. Die letzte Steigerung, das Ticken der Uhr, der Puls, der in die Apokalypse führt… So groß und überwältigend (aber natürlich auch anders) habe ich das nur bei Klemperer / New Philharmonia Orch. und Guilini / CSO gehört. Aber bei Adler muss man halt auch immer wieder manchen kleinen Loewe-Schock ertragen …
Manchmal minimale Schleifgeräusche (Kopfsatz), aber ganz offene Überspielung mit sehr gutem Klang. Auch hier wieder der Klang der Wiener Sinfoniker dieser Zeit: Klar, aber auch etwas scharf (auch durch sehr direkte Violinen).
Die Aufmachung ist wie viele der letzten M&A CD-Boxen: Solider flacher Karton, CDs in weißen Hüllen (warum nur mit Laschen verklebbar? Das ist doch überflüssig…) und ein sehr informatives englischsprachiges Textheft. Dazu gleich mehr am Ende. Eine Sache erstaunt doch sehr:
Außer der vagen Angabe 1955 (laut bearac reissues BRC-3220 ist es der 25-26. April 1955) für die Entstehung der Ersten und 1952 für die Sechste gibt es keinerlei zeitliche Aufnahmehinweise. Da steht nur pauschal 1952-1956 auf dem Deckblatt. Wenn die Angaben nicht vergessen einfach wurden, dann sind sie anscheinend nur (noch) so vage bekannt.
Aber dafür sind Dank Aaron Snyder und dem Label Music&Arts nach jahrelangen Bemühungen um bestmögliche Quellen und deren Restaurierung nun diese wichtigen Tondokumente Charles F. Adlers mit Werken Bruckners dem Vergessen entrissen …
FAZIT: Eine Veröffentlichung ganz besonders für Brucknerkenner. Nicht nur wegen des (akzeptabel bis gut klingenden) Mono, sondern eben wegen der in Vergessenheit geratenen Fassungen.