Wege von und zu Mahler
Mahlers originaler Kopfsatz aus seinem Klavierquartett (12:21 min) berührt mich immer wieder aufs Neue. Die Komposition des Sechzehnjährigen ist atemberaubend ökonomisch, konzentriert und in sich ein vollgültiges Werk. Zudem gibt es eine perfekte Balance zwischen Form und Emotion mit einem in sich geschlossenen dramatischen Aufbau. Obwohl es doch nun öfters aufgeführt wird und es mittlerweile einige Einspielungen gibt, so ist die Bedeutung dieses Quartettsatzes wohl immer noch unterschätzt. Vielleicht auch deshalb, weil es eben das kammermusikalische Jugendwerkwerk des großen Weltanschauungssinfonikers ist.
Das New York Piano Quartet zeigt sich hier gleich von seiner ganz starken Seite. Die oben angesprochene Balance von Form und Empfindung wird ideal realisiert. Manche Einspielungen leiden darunter, das die Interpreten noch mehr dazu hineingeben wollen – quasi ein Adagio aus einer Sinfonie. Die (an sich sehr schöne) Eschenbach-Aufnahme aus Philadelphia ist ein Beispiel dafür. Bei einer Spielzeit von über 13 Minuten und einem sehr romantischen Ansatz wirkt das Stück überfrachtet und verliert an Aussage. Es ist gerade das Herbe, thematisch streng Beschränkte, ja irgendwie Klaustrophobische, das dem Werk seine Ausdruckstärke gibt. Es ist so modern, wie man auch den späten Brahms sehen kann (was die „Zweite Wiener Schule“ getan hat). Das kommt in dieser Aufführung deutlich zum Tragen.
ERSTAUNLICHE NÄHE ZU MAHLERS KAMMERMUSIKWERK
Das zweite Stück der CD verwendet Mahlers flüchtigen Skizzen zu einem (vielleicht zum Quartett geplanten - aber sicher ist das nicht) Scherzo (5:48 min). Der Komponist Enguerrand-Friedrich Lühl (*1975) verwendet im Trio auch das Rückertlied „Oft denk' ich sie sind nur ausgegangen“. Die vollkommen tonal gehaltene Komposition nimmt stark die Stimmung des Quartett-Satz Mahlers auf, ohne Mahler kopieren zu wollen. Der Komponist will auch gar nicht Mahler rekonstruieren oder vervollständigen – und vielleicht gerade dadurch gelingt ihm eine große starke Nähe zum originalen Mahler.
Lühl war übrigens selbst 16 Jahre alt, als er dieses Scherzo schrieb. Mahlers Musik scheint eine zentrale Bedeutung in dessen musikalischen Leben zu haben, denn immer wieder taucht der Komponist auf. So hat Lühl z.B. die Tondichtung in fünf Sätzen „Titan“ (also die Vorstufe der Ersten Sinfonie) für Soloklavier in eigener Bearbeitung eingespielt und es gibt Paraphrasen zum Kopfsatz (hat auch Mahler selbst „eingespielt“!) und dem Adagietto der Fünften.
Auch Gernot Wolfgangs „From Vienna with Love“ (5:47 min) knüpft atmosphärisch an die Rückertlieder (im Thextheft steht am Wien des frühen 20ten Jahrhundert) an, wenn auch die Harmonik und Rhythmik immer wieder deutlich vom Jazz beeinflusst ist. Im zweiten Drittel gibt es einem langen Orgelpunkt und dann eine quasi Reprise.
Phantastisch, wie sicher und locker das Klavierquartett auch diesen Stilmix überzeugend „echt“ spielt.
FÜR DEN HÖRER WOHL WEITER VON MAHLER ENTFERNT
Christina Spineis „Mahler remixed“ (5:13 min) nimmt Fragmente aus Mahlers Quartett auf und transformiert einen Loop (Schleife). Wie beim nächsten Stück gibt es hier auch schon Minimalistisches und die Polyphonie hat Priorität vor der Harmonie, großenteils in einem Dialog zwischen Streichern und Klavier.
Deutlich schräger und minimalistisch wird es bei Barney Johnsons „Mahler 99“ (5:11 min) und verwendet neben der kleinen Patterns die musikalischen Mittel accelerando und ritardando, welche besonders die Musik der Epoche der Jahrhundertwende so stark prägten. Ein Stück der in sich verwobenen Be- und Entschleunigung.
STIMMUNG UND GEIST
Wang Jies „Song for Mahler in the Absence of Words“ (5:43 min) ist wieder atmosphärischere Musik. Jie hatte als Aussage die Schlusszeile aus “Ich bin der Welt abhanden gekommen vor Augen: „ich leb' allein in meinem Himmel, in meiner Liebe, in meinem Lied!“.
Noel Zanders „Le miroir de l'ombre“ (Schattenspiegel) (4:33) ist auch ein flächiges ruhiges Stück und entnimmt dem Quartett Mahlers das thematische Material – was den meisten bei erstmaligem Hören nicht erkennbar sein wird.
Patricia Leonards „Strangely Close, Yet Distant“ (Klaviertrio) (14:06) ist das längste Stück der CD. Angeregt wurde die Komponistin durch das Bild Okar Kokoschkas „Die Windsbraut“, in dem der Maler seine Liebe zu (oder eher Obsession von) Alma Mahler verarbeitete.
An zentraler Stelle in der Mitte des Satzes (etwa nach 7 Minuten) stimmt das Klavier den Choral aus dem Schlusssatz der Dritten Sinfonie Gustav Mahlers, später erscheint der Beginn des Schluss-Adagios der Neunten. Das Thema der (unfreien) Liebe wird reflektiert. Eine stimmungsvolle Komposition, die für meinen Geschmack knapp am Schmalz vorbei schrammt.
DURCHDRINGUNG UND WITZ
Alfred Schnittkes „Piano Quartet“ (8:06 min) ist da ein anders Kaliber. Hier ist von Beginn an wieder stärker Thematische Arbeit und Struktur spürbar. Schnittke wollte „sich etwas in Erinnerung rufen, das nie vollendet wurde“. Ein Stück der Suche nach der Erinnerung, dass dann mit dem originalen Fragment endet … Spannend in dem quasi auskomponierten Prozess. Eine äußerst intensive Interpretation!
Nicolás Pradas „Reflections on Mahler“ (4:34) ist auch amüsant, weil hier die ersten Töne des Mahler Quartetts harmonisch und rhythmisch mit Kolumbianischer Folklore verwoben werden – mit einem stimmigen Ergebnis. Ein heiterer kunstvoller leichter Abschlusssatz für diese wunderbare CD!
Aufnahmetechnisch ist die CD hervorragend geworden, das Textheft ist leider nur auf Englisch, aber dennoch gut zu lesen. Ein par Punkte habe ich ja daraus hier in der Besprechung verwendet.
FAZIT
Alles hörenswerte Werke, die sich mehr oder weniger erkennbar mit Mahlers Musik auseinandersetzen. Die Interpretation durch das New York Piano Quartet kann nur als beglückend bezeichnet werden.
MAHLERS MUSIK LEBT – auch auf diese Art!
Eine starke Kaufempfehlung für entdeckungsfreudig Menschen und solche, die immer ein wenig wehmütig angesichts der Einzigartigkeit von Mahlers Quartettsatz sind.
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