Die Letzte
Boult (1977) – BBC Symphony Orchestra: 16:25 / 12:07 / 08:12 / 13:27
Bei der vorliegenden Aufnahme handelt es sich um einen Konzertmitschnitt von den Londoner Proms vom 24. Juli 1977. Er ist insofern besonders, als dass es sich bei ihm um den Mitschnitt der letzten Aufführung des greisen Sir Adrian Boult (er war zu diesem Zeitpunkt bereits 88 Jahre alt) von Elgars zweiter Symphonie handelt. Dieses Werk ist mit Boults Namen so verbunden wie kaum ein anderes, hat er es doch 1920 – nachdem es nach seiner mehr oder minder unglücklichen Uraufführung kaum wahrgenommen wurde – wieder aus der Versenkung gehoben und es Zeit seines Lebens immer wieder aufgeführt. Insofern muss es in jedem Konzert in der Royal Albert Hall fast so gewirkt haben, als dirigiere hier Elgar selbst.
Entsprechend positiv äußert sich Martin Cotton im Beiheft zu dieser frisch erschienenen CD über die Aufnahme, vergleicht sie mit der legendären 49er-Aufnahme und spricht ihr ähnliche Qualitäten zu. Tatsächlich empfinde ich den Text – nachdem ich die Aufnahme nun mehrmals gehört habe – vornehmlich als Hommage, denn ganz so packend, wie es hier dargestellt wird, ist diese Aufnahme mE nicht. Es ist sicher keine schlechte Aufnahme – dafür bewegte sich Boult zu sicher in Elgars Musik. Aber sie geht mich dennoch nicht wirklich an.
Tatsächlich werde ich aus dieser Aufnahme nicht so recht schlau. Wo will Boult mit mir als Zuhörer hin? Der Beginn des ersten Satzes ist sehr mächtig, bei weitem nicht so forsch und bissig wie die 49er Aufnahme. Der Zug nach vorn ist bei weitem nicht so stark, es wird bei weitem nicht so knackig artikuliert, die Dynamik scheinet mir nicht so präzise umgesetzt (oft spielt das BBC Symphony Orchestra ein ziemlich lautes Piano) und sowohl Dirigent als auch Orchester scheinen mir nicht so involviert wie 28 Jahre zuvor. Ich habe nicht mehr den Eindruck, dass Boult ein bis in die Haarspitzen engagierter Teil der Musik ist, sondern sie (zu?) souverän beherrscht, also bewusst außerhalb von ihr agiert. Die Leidenschaftlichkeit, die beispielsweise bei Ziffer 17 (brillante) durchaus zu hören ist, sie wirkt nicht mehr unmittelbar und mitreißend, sondern kontrolliert und wohldosiert. Dafür schüttelt Boult Momente aus dem Ärmel, die kaum jemandem sonst so gelingen: der geheimnisvolle Beginn der Durchführung, der erste Auftritt des „malign influence“, seine sehr dunkle und lastende Wiederholung, die Übergänge, die Rubati. Das konnte mE nur Elgar besser. Dafür gibt es dann auch überraschend behäbige und uninspirierte Momente („strepitoso“), in denen Boult plötzlich die Spannung, die Agilität abgeht. Dass um Ziffer 51 herum plötzlich der Alarm einer Digitalarmbanduhr (?) losgeht, irritiert nur kurz.
Die Herangehensweise Boults an den zweiten Satz überrascht mich. Was in den ersten Takten so wirkt, als wolle ein tief empfundener Fluss anheben, entwickelt sich bald zu einem unruhigen, nervösen und bald fahrig wirkenden Geschehen. Der Satz wird sehr schnell musiziert, die Schwere von 1949 höre ich hier nicht. Trauer und Pathos suche ich vergebens. Stattdessen haben die Themen, allen voran das ab Ziffer 71 zu hörende, einen ungewöhnlichen, sich aufbäumenden Charakter und vermitteln mir eine Anstrengung, die den gesamten Satz über ins Nichts läuft, denn Boult verweigert konsequent jeden kathartischen Moment, schließlich lässt er die Höhepunkte (Ziffern 76 und dann wieder 86) konsequent nicht als emotionale Entladung spielen. Es ist wie ein beständiges nervöses Suchen ohne Hoffnung auf ein Finden.
Das Rondo fällt mir durch seinen wenig organischen Spannungsaufbau auf. Zunächst beginnt der Satz einigermaßen behäbig, spielerisch, fast pastoral, steckenweise gemütlich. Das große Unisono (Ziffer 93) wirkt erfreulich rustikal, dann flaut die Spannung schnell wieder ab und wird nicht konsequent durchgehalten oder weiterverfolgt. Die Musik plätschert etwas vor sich hin, bis es Boult in der „Maud“-Passage so recht krachen lässt. Elgar hätte seine Freude daran gehabt, wie das Schlagwerk hier alles verschwinden lässt. Aber ist das alles?
Das Finale beginnt nun ausgesprochen nobel, fast ein wenig weichgezeichnet, Ecken und Kanten tauchen hier nicht auf. Das ist sehr „con dignita“, aber nur wenig „maestoso“. Abrupt ändert sich die Stimmung. Ab Ziffer 138 lässt Boult indes schön kraftvoll musizieren, die Durchführung beginnt ausgesprochen erregt, streckenweise prescht er geradezu vehement vorwärts. Dann aber wieder das Phänomen, das mir schon im Larghetto aufgefallen ist: die Höhepunkte (bei 143 und um 165 herum) lässt Boult „implodieren“, die Spannung, die Elgar auf diese beiden Stellen hin ausrichtet, sie kann / darf sich bei Boult nicht in einer leidenschaftlich-orgiastischen Geste entladen. Stattdessen sinkt der Satz in sich zurück und seine Energie verpufft im Äther.
Mein Fazit? Nun, die Aufnahme lässt mich (gegenwärtig) etwas ratlos zurück. Das Werk geht mich hier nur wenig an, auf allerlei kann ich mir keinen mich zufriedenstellenden Reim machen. Für den Elgar-Sammler handelt es sich aber in jedem Fall um ein interessantes Dokument.