Magisch
Ein Klacken, ein seltsames leichtes Rauschen und sanftes Rumpeln . . . und nach ein paar Sekunden beginnt die Musik. Ich bin dem Produzenten von Preiser Records dankbar, dass er als erster auch diesen Zauber des 'Mediums' des Informationsträgers der Reproduktionsklavieraufnahmen mit für die CD eingefangen hat. Jede der Aufnahmen hat sozusagen einen Einschwing- und Ausschwingvorgang, der mit dem Einschalten der Reproduktionsmaschine beginnt und mit deren Ausschalten endet.
Es wäre nicht richtig, dem Hörer vorzugaukeln, dass bei der CD-Aufnahme Mahler SELBST am Klavier sitzt und HIER UND JETZT die Stücke einspielt. Natürlich sind es digitale Aufnahmen auf dem Stand der Technik von heute und dennoch sind es historische Einspielungen, Reproduktionen, die vor genau 110 Jahren entstanden sind. Das aktive Musizieren, das was da im Moment entstand, was Wechselwirkungen erzeugt hat und die Musik entstehen ließ, ist genauso vergangen wie bei jeder anderen Aufnahme, und sei sie auch heute vor einer Stunde entstanden . . .
Zu Hören ist natürlich Mahlers Spiel, übrigens an seinem eigenen Flügel wiedergegeben (Blüthner 210 cm, a´ = 335 Hz), was nochmal einen Hauch von zusätzlicher Authentizität verleiht. Im Lextheft steht dazu auch sehr Lesenswertes.
Die Welte-Mignon Papierrollen, auf denen Tonhöhe, Tonlänge, Anschlagstärke und Pedalgebrauch (also im Grunde alles, was auf einem Klavier möglich ist) aufgezeichnet und wiedergegeben werden konnte, waren noch nicht perfekt. Aber wenn auch nicht alle Feinheiten im Pedalgebrauch oder der Balance und Binnendynamik darstellbar waren, so konnten die Reproduktionen einen ziemlich guten Eindruck von dem vermitteln, was die Pianisten und Komponisten festgehalten haben. Unter akustischen Gesichtspunkten waren diese Wiedergaben an einem echten Instrument natürlich lupenrein und kein Vergleich mit den stark verzerrenden, Klang und dynamikschwachen, im Frequenzspektrum arg begrenzten und rauschenden akustischen Aufnahmen dieser Zeit.
Leider muss man dazu noch anmerken, dass die genaue Funktion der Technik und besonders manch kryptische Notizen der Aufzeichnung nicht mehr verständlich sind bzw. Stück für Stück enträtselt werden müssen, da das Wissen bzw. die Aufzeichnungen um dieses 'Geheimnis' die Weltkriege nicht überdauert hat.
Ob Mahler die Bedeutung des Mediums der Schallkonservierung erkannt oder zumindest erahnt hat, oder ob er nur nicht hinter z.B. Richard Strauss (der ebenfalls für Welte eingespielt hat) anstehen wollte, ist leider nicht bekannt. Zumindest ist die Auswahl der Werke doch beachtlich. Er hat in dieser einen Sitzung (9.11.1905 in Leipzig) nicht etwas vier oder sechs Lieder aufgenommen, sondern nur zwei Lieder und dafür zudem zwei ausgewachsene Sinfoniesätze wenige Jahre zuvor entstandener Werke.
KOPFSATZ DER FÜNFTEN
Die Fünfte war die erste Sinfonie der rein instrumentalen mittleren Schaffensphase, in der Mahler fernab vom Klavier nur noch im Kopf ersann. Gerade den Kopfsatz seines 'Schmerzenskinds', der Fünften, deren Instrumentation er mehrmals überarbeitete (Schlagwerk), erklingt hier also unter seinen Händen.
Das Hören dieses Kopfsatzes der Fünften mit dem Komponisten am Klavier ist für mich immer wieder ein (in mehrfacher Hinsicht) unfassbares Ereignis. Was Mahler da an unterschiedlichen Empfindungen von Trauer, Wehmut aber auch irrlichternder Hysterie zaubert, ist ein Wunder. Zudem ist alles quasi improvisierend nur angedeutet, mit einer seltsamen Disziplin 'nüchterner' Zurückhaltung und dadurch berührt das Werk noch umso stärker. Es ist, wie wenn uns ein Mensch etwas ganz Persönliches erzählt und eigentlich nicht fähig ist, wirklich darüber zu sprechen oder das Unsägliche nur andeuten kann.
In der Interpretation des Trauermarsches tritt deutlich Mahlers magische Fähigkeit zu Tage, einen verwaschenen großen Orchesterklang mit Tiefe und Farben entstehen zu lassen. Manche sehen das als Unfähigkeit des Dirigenten, wirklich konzertreif Klavier spielen zu können. Ich glaube, dass viele der Effekte und klanglichen Phänomene ganz bewusst von Mahler so inszeniert wurden, wie sie zu hören sind.
Manches mag auch einer ungenauen Reproduktionswiedergabe, also ungenauem Stanzen oder Übertragung von Zeichen oder überhaupt den Grenzen der damaligen Möglichkeit zur klanglichen Differenzierung (Balance, Dynamik, getreuer 'Farbklang' des Anschlags des Interpreten) geschuldet sein.
Es ist also durchaus 'empathisch' und mit Phantasie aktiv mitzuhören. Dann öffnet sich allerdings eine andere Welt.
FINALE DER VIERTEN
Interessant ist, dass Mahlers außer dem Trauermarsch drei Stücke auswählt, die im Original die menschliche Stimme in den Vordergrund stellen. Hat er etwa (trotz Ergänzung der Singstimme im Klaviersatz) an 'Music Minus One' gedacht, also an die Möglichkeit, diese neue Technik der Reproduktion als Begleitung für Sänger einzusetzen? Also quasi die Aufnahme des Komponisten einen Korrepetitoren oder Begleiter ersetzen sollte, der möglicherweise zudem das Stück nicht recht in Ausdruck und Tempo versteht? . . . Das würde ich dem genial kreativen Mahler zutrauen, ist aber wohl eher unwahrscheinlich. Vielleicht liegt die Auswahl der "Gesangsstücke" daran, dass Mahler 1905 als Liedkomponist anerkannter war denn als rein instrumentaler Sinfoniker.
Die Aufnahme des Finales der Vierten (natürlich ohne Sopranstimme, die vom Klavier ja nicht wiedergegeben hätte werden können 'g') weist manche 'Variante' zum Original auf. Ich habe bei der Einspielung hier nie den Höreindruck, dass da jemand versucht, den Satz einer Sinfonie auf dem Klavier möglichst adäquat umzusetzen. Es klingt für mich viel mehr nach freiem und spontanen 'In-die-Finger-Fließen' einer momentanen Eingebung. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so etwas woanders gehört zu haben. Das klingt für mich auch spontaner als alles, was ich je im Jazz zu hören bekam. Dort spüre ich immer die Muster und eine 'außerklangliche' energetische Anspannung, die hier ganz wegfällt.
ICH GING MIT LUST
Das geheimnisvolle Lied bekommt auch hier stark den Charakter einer improvisierten Phantasie samt eingebauter 'falscher' (?) Töne / Harmonien, die nicht im Notentext stehen. Es fallen dankenswerterweise auch alle Peinlichkeiten oder 'Erduldungen' der Singstimme weg, die oftmals mit den Dreiklängen nicht ganz zu Recht kommt (Intonation, Tonumfang!).
GING HEUT MORGEN
Auch in diesem Lied verhält es sich wie in der vierten Sinfonie oder dem anderen Lied. Es gibt aber besonders anfangs mehrere Stellen, bei denen ich vermute, dass da etwas nicht so ganz genau aufgezeichnet wurde. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass Mahler derart durch die Noten gestolpert ist, auch wenn er sich keine sonderliche Mühe mit dem ganzen gegeben hätte. Die Auswahl der Sinfoniesätze und der raffiniert orchestral gezauberte Klang sprechen gegen eine völlig fehlende Wertschätzung Mahlers seinen Einspielungen gegenüber. Zudem werden wohl alle Künstler etwas auf ihren Ruf gehalten haben, da sie wussten, dass ihre 'Klang-Rollen' jederzeit von jedem gekauft und zuhause im Wohnzimmer abgespielt werden konnten.
EDITION UND KLANG
Die Aufnahmen klingen natürlich, wenn auch ein wenig verhangen, wohl um die (kaum wahrnehmbaren) 'Maschinengeräusche' möglichst unhörbar werden zu lassen. Es wurde wohl kein Hall beigegeben. Diese Wirkung, die man manchmal zu vernehmen glaubt, scheint mir ausschließlich vom Gebrauch des Pedals her zu rühren. Ich denke nicht, dass der Einsatz von 'Halbpedal' technisch für die Aufzeichnung schon umsetzbar war. Somit kann es sein, dass manche Stellen zu viel verschwommenen Klang (quasi Hall) mitbekommen haben.
Andere CD-Aufnahmen dieser Rollen Mahlers (und vieler anderer Komponisten und Pianisten) sind bei weitem nicht so gut geraten. Im Grunde kranken fast alle an einem unnatürlichen Klang (Frequenzweichen), ganz eingeschränkter Dynamik, dem Einsatz von sehr künstlich klingendem Hall und somit dem Verlust der Klarheit der Aufnahmen.
Preiser hat die (bestimmt nicht einfach zu lösenden) akustischen Probleme bei der Wiedergabe hervorragend gelöst. Das schöne informative Textheft (immerhin sieben Seiten auf Deutsch) bestätigt noch auch hier den ausgezeichneten Eindruck dieser CD!
DAS FAZIT
Eine CD für jeden, der sich mit Mahler näher beschäftigt! Und ein Zeugnis dafür, dass es immer wieder mal besonders gelungene und liebevoll gestaltete CD-Produktionen gibt, die fernab des Mainstream etwas mehr Beachtung verdient hätten!
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