faszinierender Anachronismus
Komponisten, welche im romantischen und zudem hochexpressiven Idiom empfinden und schreiben, verorten wir (wenn die Harmonik nicht allzu gewagt) ist eindeutig im mittleren oder höchstens späten 19te Jahrhundert.
Ob Enguerrand-Friedrich Lühl-Dolgorukiy ein Komponist ist, der vor dem Lauf der Geschichte Bestand haben wird, wage ich nicht zu prophezeien. Jedenfalls fühlt, schreibt und lebt er anscheinend exakt in diesem oben beschriebenen Idiom. Nun trifft die Ungewissheit des dauerhaften musikalischen Überlebens viele Meister aller Zeiten (manche derer Werke werden sogar gerade erst „exhumiert“), aber keiner der mir bekannten reinsten(!) romantischen Klientel ist im 20ten Jahrhundert geboren – geschweige denn erst 1975 wie E.-F. Lühl! In diesem Jahr starb Dmitri Schostakowitsch, den manche als einen der allerletzten (allerdings schon stark mutierten) Romantiker sehen – wenn er auch harmonisch, vom geistigen Ansatz und den äußeren Einflüssen her durchaus nur in das 20te Jahrhundert gehören kann.
Lühl geht harmonisch nicht über Brahms hinaus (zumindest nicht in den hier vorgestellten ganz eigenen Kompositionen Klavierquartett Nr. 1 von 2008 und dem Konzertstück von 1994. Die thematische Arbeit ist klar (mancher würde sagen sehr „schlicht“), der Ausdruck ist angesichts des kompositorischen Inhalts ungewöhnlich expressiv, in dem kleinen Bravourstück (Konzertstück) brillant und äußerst effektvoll. So eine Art „Hummelflug“-Variante.
Wegen dieser zwei Kompositionen (28 min + 2 min) wird „man“ sich aber normalerweise nicht diese Doppel-CD kaufen, sondern wegen des faszinierenden Gedankens eines viersätzigen von Mahler inspirierten Klavierquartetts und der Klavierfassung der sinfonischen Dichtung „Titan“ (Vorstufe zur ersten Sinfonie) von Mahler.
DAS KLAVIERQUARTETT
Mahlers Quartettsatz a-moll ist sein einzig erhaltener gebliebener Beitrag zur Kammermusik. Mahler ist hier schon großartig genial und wohl immer noch nicht genug beachtet und erkannt, auch wenn der 11-13 minütige Satz immer häufiger auf Konzertprogrammen steht und in CD-Einspielungen zu hören ist. Die thematische Konzentration, Reduktion und Effizienz ist meisterlich (Mahler war 16, als er das Stück schrieb). Dabei ist der Ausdruck äußerst vielschichtig und der Aufbau nicht nur klar, sondern auch absolut zwingend! Für mich ist das ganz ganz große Kammermusik.
Auf der Rückseite eines der Notenblätter dieses Quartett-Satzes befinden sich Skizzen zu einem Scherzo, ebenfalls in der gleichen Besetzung. Die Musikwissenschaft ist sich nicht im Klaren, ob das nun ein weiterer Satz zu dieser Komposition geworden wäre oder gar nichts damit zu tun hat. Besetzung und passende Tonart könnten nahe legen, dass Mahler doch ein mehrsätziges Werk geplant hat.
Schnittke hat den spannenden Versuch unternommen, ein „Erinnern an etwas nicht Vorhandenes“ auszukomponieren. Das ist vom ersten Ton an eindeutig Musik (und eine Idee) des 20ten Jahrhunderts. Mahlers original tauscht folgerichtig auch erst ganz am Schluss der ca. minütigen Komposition auf.
Enguerrand-Friedrich Lühl (damals wohl noch ohne Dolgorukiy) war wie Mahler ebenfalls 16 Jahre alt, als er aus dem vorhandenen Material plus einer anderen die Urheberschaft betreffend umstrittenen Komposition (Sinfonisches Präludium) ein viersätzigen Quartett komponierte.
Für das Scherzo ist ja, wie schon erwähnt, zumindest eine thematische Idee skizziert: Thema, Charakter, die unruhige Klavierbegleitung, Harmonik. Lühl gelingt das zu einem Ganzen zu runden, also ein vollständiges Scherzo zu schaffen.
Jedes Scherzo hat(te zumindest damals) auch ein Trio, was nun damit? Hier taucht das Kindertotenlied „Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen“ auf – und da gelingt Lühl für mein Empfinden ein kleines Wunder: er reduziert passend das harmonisch Verfeinerte des eher späten Mahler, deutet nur an, setzt ganz zwingend Bruchstücke zusammen, die sich wunderbar mit der verkürzten Reprise zu einem stimmigen Ganzen fügen. Das ist für mich ein großartig gelungener Satz. Natürlich kein „Mahler“, wie es die „Zehnte“ ja auch nicht ist, aber ebenso wie diese sehr vom Geist des Komponisten erfüllt und in der Empfindungswelt passend. Der Genauigkeit halber: von der „Zehnten“ ist natürlich als Gerüst das vollständige Werk (in dem Stadium) und auch ein großer Teil der Ausarbeitung vorhanden.
Der dritte Satz „langsam und empfunden“ basiert (wenn ich es recht übersetzt habe) auf dem skizzierten und nur teilweise instrumentierten „sinfonischen Präludium“, das auch schon mal Hans Rott zugeschrieben wurde. Die Autorenschaft ist also nicht zweifelsfrei geklärt bzw. überhaupt unklar. Dieser Satz ist recht eigenständig und man kann ihn, wenn man guten Willens ist, als eine Insel in dem Quartett sehen.
Der vierte Satz „Finale“ verarbeitet wiederum zwei Skizzenblätter, die vielleicht von Mahler um 1900 geschrieben wurden. Für meine Ohren entfernt sich dieser Satz am meisten von dem ganzen Quartett, aber vielleicht will das öfters gehört werden und motivisch verstanden
Es muss betont werden, dass Lühl ja nicht Mahler vervollständigen wollte, sondern ein Quartett „a la Mahler“ schreiben wollte. Das Scherzo ist auf jeden Fall eine Bereicherung der Literatur.
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ANACHRONISMUS ANDERER ART
Die zweite CD füllt vollständig (62 min!) eine Klavierfassung der fünfsätzigen Sinfonischen Tondichtung „Titan“. Der Begriff „Klavierfassung“ geht mir nicht leicht von der Tastatur, da gerade der auf Klavier unmöglich eins zu eins umzusetzenden ersten Satz auch manchmal als „Phantasie über“ anmutet. Ich finde das sehr gelungen, weil die möglichst notengetreue Umsetzung (wie bei Bruno Walters „Klavierauszug“) etwas von dem Zauber und dem Hauch des Phantastischen dieses ersten eigenständigen und rein sinfonischen Werks nimmt. Auch bei Lühl gibt es „Hakeliges“ und auch mal Dröges, aber dieser Kopfsatz ist erstaunlich stimmungsvoll und im Geiste(!) richtig umgesetzt.
Dann „Blumine“, die natürlich ohne die raffinierten Orchestereffekte etwas entzaubert wirkt. Aber im reinen klaviersatz wird deutlich, dass dieser Satz durchaus auch strukturelle und eben kompositorischen Substanz und Qualität hat. Für mich sind die Erste Sinfonie und die Tondichtung „Titan“ eigentlich zwei grundsätzlich verschiedene Stücke – nicht nur wegen der Eliminierung des „Blumine“-Satzes.
Das Scherzo „mit vollen Segeln“ liegt sehr gut fürs Klavier. Ein Satz, den man durchaus auch mal als eigenwillige Zugabe in einem Klavier-Recital spielen könnte!
Der zweite Teil der Tondichtung „Comedia humana“ (der vierte und fünfte Satz) bildet ja ein Ganzes und öffnet gegenüber den ersten drei leichter gewichtigen Sätzen eine ganz neue, abgründige und erschreckende Welt.
„Gestrandet“, besonders der Trauermarsch mit „Bruder Jakob“ in moll, wirkt auf dem Klavier im Aufbau des Kanons doch etwas brav, einfach weil die vielen Schichten und klaren Orchesterfarben fehlen. Die schwächeren / blasseren Stellen mögen auch von Lühls Klavierspiel herrühren, das Klarheit und gute Agogik, aber nicht allzu viele Klavierfarben bietet.
Im Finale „Dall inferno al paradiso“ wechseln gelungene inspirierte Passagen mit Leerlaufstellen. Aber jeder, der das Werk im Original kennt, wird das nach fünf Sekunden Nachspüren einleuchten, dass das bei solch einer Umsetzung von Orchester auf Klavier gar nicht anders sein kann. Mir persönlich ist wieder bewusst geworden, wie großartig Mahlers eigene Einspielungen der Lieder, des Finales der Vierten und ganz besonders des Kopfsatzes der Fünften geraten sind. Unbedingt in der Überspielung „Gustav Mahler und sein Klavier“ (ASIN B0038JY8LC) hören!
Lühl hat die erste Version der Klavierfassung des „Titan“ im Alter von 14 Jahren(!) geschrieben. Später hat er das ganze nochmal grundlegend überarbeitet. Die Leidenschaft und Begeisterung für Mahlers Musik ist sowohl in der Fassung selbst als auch dem Klavierspiel des Komponisten zu spüren. Manchmal wünschte ich mir dann doch vier Hände oder zwei Klaviere, aber die zweihändige Fassung bieten doch die persönlichste und spontanste musikalische Umsetzung.
EDITION UND KLANG
Das Textheft ist leider nur auf Französisch und Englisch, was in diesem Fall angesichts der vielen dort enthaltenen Informationen zu dieser bekannten Musik in so fremder Umsetzung wirklich schade ist.
Die Aufnahmen klingen natürlich und sehr direkt, besonders Mahlers “Titan“. Das bietet bei Letzterem zwar Intimität und Klarheit, nimmt aber etwas von den „Raumfarben“ (Klangentwicklung) und der orchestralen Wirkung.
DAS FAZIT
Eine CD durchaus für Neugierige und Mahlers Kenner und Verehrer. Klavierliebhabern würde ich sie nicht unbedingt ans Herz legen und auch nicht als Mahler zum Kennenlernen. Das Hören bietet Anregung für die eigene Erinnerung an die originale Orchestrierung des „Titan“, eine gewisse Askese und bezüglich des Quartetts eine Fülle von Eindrücken und auch glücklichen Momenten.
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