Erstfassung aus konventioneller(?) Sicht
Zu Beginn eine kleine Aufstellung von zehn der Einspielungen (welche ich selbst besitze und somit kenne), die es mittlerweile von der Erstfassung der Dritten Bruckner gibt:
Sinfonie Nr. 3 d-moll WAB 103 (Urfassung 1873, Ed.: L.Nowak 1977)
E. Leinsdorf / Chicago Symphony Orchestra (Lucky Ball priv / 8.12.1983 Orchestra Hall Chicago)
R. Norrington / The London Classical Players (EMI / Sept 1995 Abbey Road Studio 1 London)
G. Tintner / Royal Scottish National Orchestra (Naxos / 31.8.+1.9.1998 Glasgow)
K. Nagano / Deutsches Sinfonie-Orchester Berlin (Harmonia Mundi / März 2003 Studio NIG Berlin)
J. Nott / Bamberger Symphoniker (Tudor / 2-4.12.2003 Joseph-Keilberth-Saal Bamberg)
S. Young / Philharmoniker Hamburg (Oehms / live 14-16.10.2006 Laeiszhalle Hamburg)
R. Norrington / RSO Stuttgart (Hänssler SWR / 22.5.2007 Beethovensaal Liederhale Stuttgart)
H. Blomstedt / Gewandhausorchester Leipzig (Querstand / 23-24.9.2010 Leipzig)
J. Nott / Hochschulorch. Basel &Junge Philh. Zentralschweiz (Priv. / live 4.11.2011)
R. Ballot Altomonte Orchester St.Florian (Gramola / live 23.8.2013 St.Florian)
Es wird somit deutlich, dass die Zeit des vorsichtigen Kennenlernens der stark abweichenden Erstfassungen längst vorbei ist (übrigens auch bei der Zweiten, Vierten und Achten) und diese sich wachsender Akzeptanz und Beliebtheit erfreuen - auch unter Dirigenten.
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Was nach zwei drei Minuten Höreindruck klar ist: Blomstedt betrachtet die Erstfassung (von 1873) der Bruckner Dritten als ein romantisches Werk. Damit ist keine Wertung verbunden – ich meine damit noch nicht einmal, dass sein Dirigat irgendeiner romantischen Attitüde huldigt. Aber anders als Norrington, Gielen oder Nott (jeder auf ganz eigene und unterschiedliche Weise), welche das Revolutionäre der ganz neuen Dimension dieser Sinfonie hervorheben, lässt Blomstedt die Musik sich so entwickeln, wie er empfindet, dass sie es allein aus sich heraus tun sollte. Das Ergebnis ist bei Ihm dann eben eine große Sinfonie mit romantischem Klang und romantischer Gefühlswelt (durchaus Begriffe auf sehr dünnem Eis). Und ist dies denn nicht das höchste Lob für einen Dirigenten: das selbstlose und uneitle Dienen gegenüber dem Werk?
Wenn es sich um eine Sinfonie Mozarts, die Brahms Zweite oder Strawinskys Sinfonie in drei Sätzen handeln würde, dann würde ich voll zustimmen. Vielleicht auch noch bei der Zweiten Bruckner (die Blomstedt übrigens überragend gut gelungen ist!) – aber bei seiner Dritten, der „Wagnersinfonie“? Ich beantworte die Frage nicht sondern betrachte erst einmal die ganze Sinfonie unter dem Aspekt von Tempomodifikationen.
ERSTER SATZ
Der Kopfsatz entspinnt sich bei Blomstedt mit majestätischer Ruhe und kaum einem Drang nach vorne. Das kann gut mit Bruckners Angabe (alle meine Belege entstammen der vom Dirigenten verwendeten Nowak-Ausgabe von 1977) „gemäßigt, misterioso“ vereinbart werden. Außer dieser Angabe gibt es kaum eine Anweisung, die sich auf das Tempo bezieht – und ein „gemäßigt“ sagt auch nicht allzu viel aus… Im Takt 76 steht ein „ritenuto“ mit folgendem „Tempo I“, dann gibt es erst wieder im Takt 440(!) ein „ritardando“, gefolgt von „früheres Zeitmaß“ und kurz von Ende des Satzes bei Takt 705 „rubato“, bei Takt 710 für 11 Takte ein „langsamer“ (die erste wirkliche Tempoänderung!), gefolgt von „Tempo I“. Das ist in dem riesigen 746 Takte umfassenden Kopfsatz (der bei Blomstedt 23:06 min dauert) alles an Angaben!
Blomstedt befolgt exakt das was in der Partitur steht, was der Musik die Ruhe eines reichen „Pflanzengartens“ gibt. Vielerlei Verzweigungen, Verwandlungen und Farben bei einer großen Konstanz des Ganzen.
ZWEITER SATZ
Das Adagio ist zu Beginn im 4/4 Takt mit „feierlich“ überschrieben, aber schon bei Takt 33 gibt es einen Taktwechsel in eine ¾ Takt mit der Angabe „Andante“. In diesen neuen Abschnitt (bis Takt 129) gibt es nun eine Wechsel zu „langsamer, Misterioso“ dann wieder zurück zu Andante. Ab Takt 129 (als zweiter Anlauf) dann wieder Adagio im 4/4 Takt, ab Takt 161 den „Andante“ ¾ Takt, ab Takt 225 (als dritter Anlauf mit dem Höhepunkt und ruhigem Schluss) wieder Adagio im 4/4 Takt bis zum Ende.
Dieser Satz ist also (im Gegensatz zum ersten Satz) durchsetzt und gegliedert von Takt- und Tempowechsel.
Blomstedt schafft es, diese sichtbaren Brüche (die aber eher Stimmungswechsel sind) „selbstverständlich“ erscheinen zu lassen, vielleicht eben dadurch dass er sie als geschlossenes und dergestalt notwendiges Ganzes versteht und so der Höreindruck auch dem entsprechend ist.
DRITTER SATZ
Das Scherzo hat die Überschrift „ziemlich schnell“, das Trio ist mit „gleiches Zeitmaß“ benannt. Es gibt jede Menge Akzente, Dynamikangabe und andere Spielvorschriften, aber keine einzige(!) Tempomodifikation!
Diese Grundangabe „ziemlich schnell“ befolgt Blomstedt durchaus, wobei er das „ziemlich“ als „nicht ganz schnell“ liest, wo Solti und andere es als „deutlich schnell“ verstehen. Worte sind und bleiben einfach missverständlich …
VIERTER SATZ
Das Finale hat in der Erstfassung 764 Takte – also 20 Takte mehr als der Kopfsatz! Somit ist die Dritte durchaus als „Finale-Sinfonie“ geplant, was anhand der (verstümmelnden) dritten Fassung von 1890 kaum mehr nachzuvollziehen ist.
Die Anfangs Angabe ist „allegro“, aber ich erspare Ihnen hier die Aufzählung der Fülle der Tempo-Angaben von „Adagio“ bis „sehr schnell“. Der Satz ist extrem zerklüftet und in jeder Hinsicht sehr vielschichtig, bis zu der Tatsache, das wie später auch bei Ives, auch mal zwei Musiken gleichzeitig erklingen: eine Polka und ein Choral …
Bei Blomstedt scheint das Finale als großer Kulminationspunkt. Die bescheidene Zurückhaltung kann – dank der Partitur *g* - der Dirigenten aufgeben und das Orchester alle Facetten seines Könnens zeigen, samt großer Virtuosität. Es ist nun gut verständlich, warum die Wiener Philharmoniker das Werk in dieser Fassung als „unspielbar“ abgelehnt hatten.
DIE GROSSE FRAGE
Ich stelle die offen gebliebene Frage nochmals anders: Genügt es bei einem „Gesinnungswerk“ wie der Dritten Bruckner nur der Partitur zu folgen, ohne etwas aus den eigenen Erkenntnissen des Verständnisses eben dieser Partitur als Verdeutlichung mit einfließen zu lassen? Muss die Haltung des Dirigenten zu dem Stück (womit ich nicht Zustimmung oder Ablehnung meine) in der Aufführung spürbar werden oder nicht?
Meine Antwort: Vielleicht liegt das einzig und alleine an der Stärke des Dirigenten. Und den Fähigkeiten des Orchesters. Und natürlich am Glauben der Interpreten an die Wahrhaftigkeit und Tragfähigkeit der gespielten Musik …
Und dem Mut des Hörers, sich darauf einzulassen. Insofern können sie nur selbst für sich entscheiden, ob das Konzept dieser noblen Aufführung aufgeht.
KLANG UND EDITORISCHES
Der Klang der hybriden SACD des Labels „Querstand“ (Kooperation mit dem Sender MDR) ist sehr gut. Das Panorama ist groß, das Klangbild klar und unverfärbt. Ich persönlich mag die heutigen (hier angewandten) Aufnahmephilosophie nicht so sehr, bei der dem man quasi im Konzertsaal sitzt – denn der Höreindruck im Saal (umfangen vom Klang mit zusätzlichen Augen zum „Hören“) ist ein anderer wie zuhause vor der Anlage. Ich bevorzuge mehr die Nähe früherer Aufnahmen mit mehr Präsenz der Instrumentengruppen, gern auch einem leichten Herausheben von Solistischem usw.
Es handelt sich um eine SACD mit Pappklappe, die Aufmachung ist schlicht, die Schrift hie und da für ältere Semester nicht allzu leicht zu lesen. Es gibt sechs Seiten zur Entstehung der Dritten, drei Seiten zum musikalischen Verlauf der Sinfonie und zudem jeweils zwei Seiten über den Dirigenten Blomstedt und das Gewandhausorchester Leipzig.
Das Textheft beinhaltet alle Daten zur Aufnahme wie Techniker, Ort und Datum.
FAZIT
Diese Einspielung der Bruckner Dritten mit Blomstedt ist - so unscheinbar sie erscheinen mag - doch wichtig, gerade weil sie so ganz und gar ohne „Verfärbungen“ die Partitur in Klang darstellt.
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