„für spätere Zeiten bestimmt“ – für heute?!
Die Zweite c-moll ist chronologisch nach der Studiensinfonie“ f-moll, der Ersten (dem „kecken Beserl“) c-moll und der “Annullierten“ (Nullten) d-moll Bruckners vierte Sinfonie. Sie ist nach wie vor ein weit unterschätztes Werk und zudem das Werk Bruckners, dessen (hier vorliegende) phantastische Erstfassung das Publikum zuletzt kenne lernen konnte.
Zu Beginn eine kleine Aufstellung von vier der Einspielungen (welche ich selbst besitze und somit kenne), die es mittlerweile von der Erstfassung der Zweiten Bruckner gibt:
Sinfonie Nr. 2 c-moll WAB 102 (Urfassung 1872, Ed.: W.Carragan)
G. Tintner / National Symphony Orchestra of Ireland (Naxos / 16+17.9.1996 Dublin)
S. Young / Philharmoniker Hamburg (Carragan 2005) (Oehms / live 12+13.3.2006 Laeiszhalle Hamburg)
G. Schaller / Philharmonie Festiva (live Profil / Juli 2011)
Blomstedt / Gewandhausorchester Leipzig (Carragan 2005) (Querstand / 9+10.3.2012 Leipzig)
Auch wenn es bei der Zweiten nicht so viele Einspielungen wie bei der Dritten und Vierten sind: Es wird hier dennoch deutlich, dass die Zeit des vorsichtigen Kennenlernens der stark abweichenden Erstfassungen vorbei ist (auch bei dieser eigentlich zuletzt entdeckten bzw. W.Carragan rekonstruierten Urfassung) und diese sich wachsender Akzeptanz und Beliebtheit erfreuen, auch unter Dirigenten.
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Auch in der Zweiten (wie bei der Dritten) hält sich Blomstedt im Umgang mit den Tempi offensichtlich möglichst genau an Bruckners Angaben (außer einem vielleicht etwa sehr zügigen Adagio – aber durchaus noch im Rahmen). Tintner, Young und Schaller sind da im Kopfsatz wesentlich „moderater“ (also ungenauer) und somit im „Tempo-Ausdruck“ mehr bei der immer noch häufiger gespielten Zweitfassung.
Denn: Bruckner favorisiert bei der Zweiten in der Erstfassung zügigere bis schnelle, in der zweiten Fassung eher gemäßigte bis langsame Tempi. Hier sind die Änderungen der hier eingespielten Erstfassung von 1872 zur zweiten Fassung von 1977, die nicht nur die Tempi, sondern sogar die Reihenfolge der Binnensätze betreffen:
Kopfsatz: Aus „Allegro. Ziemlich schnell“ wird „Moderato“, also gemäßigt.
Scherzo (mit langsamen Satz vertauscht): Aus „schnell“ wird „mäßig schnell“.
Langsamer Satz (mit Scherzo vertauscht): Aus „Adagio. Feierlich, etwas bewegt“ wird „Andante. Feierlich etwas bewegt“
Nur das „Finale. Mehr schnell“ des Finales bleibt bestehen.
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DER KOPFSATZ . . .
… ist einer der originellsten Kompositionen Bruckners – nicht nur wegen der eigentümlichen Generalpausen, welche die Themen gliedern und dem Werk den manchmal verwendeten Beinamen „Pausensinfonie“ gegeben haben. Wie in der davor entstandenen annullierten Sinfonie gibt es thematisch nicht gleich eine klare Aussage. Nur bei der „Nullten“ war Bruckner in Absicht einer Entwicklung der Musik „aus dem Nichts“ noch konsequenter, sodass der Dirigent Dessoff bei der Durchsicht des Werks die Frage stellte, wo denn das Hauptthema sei.
Die vorbereitenden Klänge („Medium“), die außer bei der „Studiensinfonie“ f-moll in allen Sinfonien erscheinen, sind auch in der Zweiten vorhanden und setzen sich ähnlich wie bei der „Nullten“ konsequent in dem tastenden unstet suchenden Hauptthema selbst fort. Die Idee der organischen Entwicklung eines Werks scheint den Komponisten schon damals verfolgt zu haben.
Blomstedt ergreift dieses „ziemlich schnell“ und dennoch gerät der Satz an keiner Stelle hektisch. Alle Facetten, Bögen und Spannungen sind neben der melancholischen und dennoch feurigen Grundstimmung erlebt.
DIE REIHENFOLGE VON SCHERZO UND LANGSAMEN SATZ
Hörer, die nur die häufiger gespielte zweitfassung kennen, werden beim „Track 2“ erst einmal ihren Ohren nicht trauen. In der Erstfassung sind zuerst das Scherzo und dann der langsame Satz zu hören! Die Vertauschung von Scherzo und Adagio (in der Zweitfassung Andante!) sind im Verständnis des Werks eine harte Nuss – ähnlich gravierend wie die Umstellung der Binnensätze in Mahlers Sechster. Wie auch hier scheint die Bedeutung des Finales ausschlaggebender Punkt gewesen zu sein. Beide Komponisten sind anscheinend an einem Punkt der Überlegungen überzeugt gewesen zu sein, dass die in beiden Sinfonien besonders meditativ und weltentrückt geratenen Adagio bzw. Andante dem Finale vorangestellt diesem noch mehr Gewicht, Bedeutung und „Durchschlagskraft“ geben. Mahlers endgültige Entscheidung dazu ist mittlerweile eindeutig geklärt: das „Andante moderato“ soll der zweite Satz sein! – auch wenn das durch die verwirrende Rezeptionsgeschichte immer noch mehrheitlich nicht befolgt wird und auch nicht jedem recht einleuchten will ...
Von Bruckner gibt es keine Aussagen dazu, warum er zu der konventionellen Form mit Scherzo als dritten Satz zurückgekehrt ist. Vielleicht hat es doch etwas mit der Suche nach Akzeptanz zu tun (woran Mahler nicht viel Gedanken verschwendete) und somit der Vermeidung von „unnötigen“ Extravaganzen.
Jedenfalls erscheinen durch die Umstellung der Binnensätze sowohl der Kopfsatz im „hörenden Rückblick“ als auch das Finale in der Folge auf den vorhergehenden Satz in anderem Licht. Interessant ist, dass sowohl bei Mahlers Sechster als auch bei Bruckners Zweiter das Finale nicht einfach beginnt, sonder bei Mahler eine deutlich gewichtige langsame Einleitung und bei Bruckner einen sehr langgezogenen steigernden Aufbau (im Gegensatz zur Ersten und Dritten) hat. In beiden Fällen ergibt das gefühlsmäßig sozusagen nochmal eine kurze „Verschnaufpause“ vor „finaler Aktion“.
FINALE
Den Kenner der Sinfonie ist am meisten vom Finale der Erstfassung fasziniert, da die Abweichungen zur Zweitfassung dort am größten sind. Carragans Rekonstruktion erschließt „neue“, also bis dato nicht bekannte Kompositionsteile, die teilweise verstörend modern klingen. Da hört man schon hie und da Hans Rott und Gustav Mahler …
Das Finale der Erstfassung ist nochmal etwas umfangreicher als der schon gewichtige vierte Satz der Zweitfassung. (bei Blomstedt mit 18:25 min Dauer der längste Satz der Sinfonie!) Bruckner war spätestens von der Ersten an besonders an der Lösung des Finales als Ziel und Kulminationspunkt jeder Sinfonie bemüht. Das gelang ihm m.E. nicht immer gleich überzeugend, aber in der Zweiten, Fünften und Achten sehe ich das genial umgesetzt.
Blomstedt erkennt alle Aspekte und Möglichkeiten des Finales und setzt sie mutig (auch im Tempo) und auch wirklich virtuos um. Dank des wunderbar aufspielenden Gewandhausorchesters Leipzig. Punkt.
KLANG UND EDITORISCHES
Der Klang der hybriden SACD des Labels „Querstand“ (Kooperation mit dem Sender MDR) ist besser als bei der Dritten, nämlich sehr gut bis hervorragend. Das Panorama ist groß, das Klangbild klar und unverfärbt, aber die Nähe zu dem Orchester ist besser gelungen als bei Bruckners „Wagnersinfonie“.
Es handelt sich um eine SACD mit Pappklappe, die Aufmachung ist schlicht, die Schrift hie und da für ältere Semester nicht allzu leicht zu lesen. Es gibt neun Seiten informativen Text über die Zweite und zudem jeweils zwei Seiten über den Dirigenten Blomstedt und das Gewandhausorchester Leipzig.
Unglaublich, aber wahr: alle Daten zur Aufnahme wie Techniker, Ort und Datum wurden vergessen! Ein Fehler der Seitenverteilung bei der Herstellung?
FAZIT
Die Erstfassung der Zweiten Bruckner liegt hier in einer maßstabsetzenden Einspielung vor. Blomstedts Interpretation ist meines Erachtens persönlicher und aussagekräftiger als bei der Dritten geraten. Möglicherweise liegt es auch an dem hier noch etwas präsenter eingefangenen Orchesterklang oder auch mit daran, dass die Dritte noch heikler zu gestalten ist. Eine großartige Referenzaufnahme der Zweiten von 1872 aus dem Jahr 2012 !
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