Fragezeichen der Musikgeschichte
Engagierte und sorgfältig musizierte Darstellung eines der rätselhaftesten Werke der jüngeren Musikgeschichte, das ich kenne. Klangtechnisch gute, wenngleich nicht herausragende Produktion - die räumliche Definition hat etwas gelitten, das Klangbild ist insgesamt recht weich und kompakt; diese Musik würde von einer kalt analytischen Darstellung mehr profitieren. Aber gibt es nicht Wichtigeres als diese technischen Anmerkungen ?
In der europäischen Geniebewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts krisenhaft wurde und nach einigen retardierenden Momenten (z.B.Brahms) in das Gewimmel der Avantgarden zerbarst, denen kein kämpfendes Heer mehr folgte, in dieser Bewegung war Magnard der Idiosynkratiker. Bei ihm gibt es keine glaubhaften produktiven Formverläufe mehr, ihre Elemente scheinen ihre Bedeutung mehr zu verstecken als zu zeigen. Die Werke entwickeln sich nicht, sie springen zwischen diskursiven und verkündigenden Äußerungen hin und her; er ist weder Romantiker noch Klassizist und wenn die zeitgenössische Kritik das "Klassische" an ihm lobte, konnte sie nur den kleinsten verläßlichen Nenner seines Künstlertums meinen. Folgt man seiner Musik hörend, muß man sich fragen, was hier überhaupt zu verstehen wäre von ihren Absichten wie von ihren Erfüllungen. Betrachten wir Magnards geistige Physiognomie, klärt sich einiges. Dieser Komponist wollte nicht verstanden werden, er gibt nur gebrochenen Ausdruck, ausgehöhltes Pathos. Auch jene Stellen, die "wie Rameau" oder "wie Wagner", "wie Bruckner" sich anhören, bezeugen keinen Einfluß dieser Musiker, sondern Annäherungsversuche eines Überempfindlichen, die bald wieder abgebrochen werden. Seine Art von "musique pure" meidet jede Berührung mit ihrer Gesellschaft und jede Aussage. Die Werke sind Gestalt gewordene Haltung, unversöhnlich. (Warum, wissen wir eigentlich nicht.) Sie enttäuschen auch den, der so manche "großartige" Geste gern nachfühlend genießt. Das "Zyklische" kann bei Magnard keine Werkform prägen, es bleibt wie ein Plakat aufgehängt, isoliert vom wirklichen Geschehen. Sehr charakteristisch aber sein Verfahren : er trägt anfangs schnell, ja geschäftig viele Einzelgedanken vor, die aber nicht entwickelt werden, um sodann mit einem oder zwei weitausgreifenden, aber ebenfalls kaum entwickelten Themen eine Beruhigung zu inszenieren. Typisch auch die kontrapunktische "Durchführung" von Themen, die einander fremd bleiben müssen (dies meist in den Ecksätzen der Sinfonien). - Wäre nach alledem nicht "Verstehen" eine Beleidigung des Komponisten ? Selbst die Nummer 163 der "Musik-Konzepte" über Magnard vom Februar dieses Jahres gesteht nach längeren technischen Erörterungen ihre Ratlosigkeit gegenüber der Bedeutung des Erklingenden ein - das freilich ist grundsätzliches Problem dieser Publikationsreihe. -- In der Erinnerung bleibt aber doch etwas : zum Beispiel das "Religioso" der 1.Sinfonie, weil es sich selbst so viel Gewicht verschafft, daß es als Form-Aussage der Zerfallstendenz des Komponisten widersteht, ebenso der "Chant varié" der 2. Sinf., aber auch wie aus großer Ferne dringende Einschübe, etwa das Einstimmen der Instrumente auf einen Ton in der 4. Sinfonie. Wo die geistige Verbindlichkeit, die wir Stil nennen, schwindet, gewinnt das "Material" der Musik ein Eigenleben, das dann Schönberg und seine Nachfolger dazu verführte, es zum Modell einer neuen Kunstlehre zu ernennen. Es ist aber ein Produkt des Zerfalls, der Freisetzung des Unqualifizierten oder der wie auch geistvollen Laune, und daher kommen die "Überraschungen" im Formverlauf, auf die Magnard so stolz war. 'Etwas machen, als ob es gewachsen wäre' - das ist der Traum des Menschen, der an der Technik seiner Kultur zweifelt, ja verzweifelt. Vielleicht ist es besser, Magnard auch beim Hören seiner Werke als Unverstandenen stehen zu lassen und seine Haltung nicht als künstlerische "Größe" zu verkleinern : das hieße nur, ihr das Siegel des Mißverständnisses aufzudrücken. Es bleibt eine offene Frage, wieso man sich musizierend oder hörend damit beschäftigen soll ? Auch an dieser rätselhaften Kunst wird, einem Wort Goethes folgend, jede neue Generation wieder Neues und Anderes zu lernen finden.