Großartiges Kopfkino!
Tom Finnek ist das neue Pseudonym eines Autors, den ich schon früher unter anderem Namen, Mani Beckmann, durch historische Krimis aus dem Münsterland kennengelernt habe, die ihresgleichen suchen, weil sie es einfach wert sind, gelesen und genossen zu werden.
Aber nun zu dem vorliegenden, ich würde behaupten, noch ausgereifterem Buch "Unter der Asche" des wirklich bemerkenswerten Autors:
Die Hauptpersonen, die Finnek in seinen Romanen zeichnet, sind eigentlich grundsätzlich immer einfache Bürger. Diesmal handelt es sich ebenfalls wieder um Menschen, die nicht auf der sogenannten Sonnenseite des Lebens, oder wie hier nicht auf der richtigen Seite der Themse leben, sondern in Southwark, auf der Südseite der Themse, wo man mehr ums Überleben kämpfen muß.
Der Roman versetzt den Leser in das London des 17. Jahrhunderts. Die Bevölkerung ist sowieso schon sehr dezimiert, aber die Pestwelle ist erstmal so gut wie überstanden. Wir befinden uns im September des Jahres 1666, kurz nach dem großen 4-tägigen Brand, der die Stadt zu vier Fünfteln zerstört hat und der vermeintlich Schuldige an dem großen Brand wurde gerade hingerichtet. Wir lernen Geoffrey Ingram kennen, der seinem Lehrer in der Armenschule und damit auch uns aus seiner Sicht beschreibt, wie es aus seiner Sicht dazu kam. Denn welches die tatsächlichen Ursachen waren, wurde - ebenso wie der Brand in Hamburg - nie wirklich aufgeklärt.
Finnek erzählt demnach folgerichtig in Rückblicken und 8 verschiedenen, sich quasi überlappenden oder berührenden, kreuzenden Handlungssträngen die Geschehnisse vor dem Brand und überläßt zu guter Letzt dem Leser selbst, welche Schlußfolgerungen er daraus ziehen mag. Denn eine allgemeingültige Wahrheit scheint es eben nicht zu geben.
Der 13jährige Geoffrey, vom Leben nicht gerade mit den günstigsten Familienverhältnissen ausgestattet - ärmlichste Verhältnisse, der Vater ein Säufer, die Mutter weggelaufen, der Bruder Edward nach einem Streit mit dem Vater ebenso, schlägt sich mehr schlecht als recht als Laufbursche durch - begibt sich nach einem belauschten Gespräch auf die Suche nach seiner plötzlich verschwundenen schönen Schwester Jezebel, die in der verrufenen Kneipe "Boar`s Head" als Bedienung arbeitete.
Wir erfahren von dem pestkranken Maler Jamie Hollar, der Jezebel malen wollte, in den sie sich verliebt hatte und nach dessen Tod sie spurlos verschwindet, von Ray Webster und dessen Wandlung von einem gewieften Gauner zum Künstler, von dem verrückten Rat Scabie und mehreren anderen, die manchmal die gleiche Geschichte aus völlig anderer Perspektive erzählen. Der Mord an Robert Gavell, dem Sohn eines Pfarrers, spielt offenbar ebenso eine Rolle wie ein Mörder, der unter dem Namen Southbank Slasher bekannt wird und der mehrere, immer schwarzhaarige Frauen, auf dem Gewissen zu haben scheint. Wir erfahren auch die Geschichte der Digger, einer kleinen revolutionären Religionsgemeinschaft, die einige Jahre zuvor gewaltsam zerschlagen wurde und deren Anführer Gerrard Winstanley immer noch gesucht wird. Ein seltsamer Eremit auf einem Friedhof spielt eine Rolle, ebenso fließen die Probleme der anglikanischen Kirche mit den Quäkern, das Leben der ärmeren Schicht in London zur damaligen Zeit, das damalige Leben auf dem Land und vieles mehr in ein kompliziertes und mehrfach verwobenes großes Puzzle mit ein, das Tom Finnek dem Leser zum gefälligen Mitraten vorsetzt.
Am bemerkenswertesten an der Erzählkunst des Autors finde ich, dass es - genau wie in seinen früheren Romanen auch schon - keine Schwarz-Weiss-Malerei gibt, keine endgültige Entscheidung, welcher seiner Protagonisten gut, welcher böse ist. Er zeigt und zeichnet seine Protagonisten immer vielschichtig mit Ecken und Kanten, mit ihren Licht- und Schattenseiten, gibt sie wieder, wie sie eben sind oder sein könnten, in Relation zu den Umständen und Verhältnissen, in denen sie zu ihrer Zeit lebten, zeigt neue/andere Varianten für den Ausbruch des großen Brandes in London auf und überläßt dem Leser, der sich, wie ich gerne darauf einläßt, ein gutes Teil der Gedankenarbeit, was wohl buchstäblich unter der Asche gewesen ist.