Vieles bleibt ungewiss
„Die Kinder, die Schwächsten, greift der Weltuntergang also zuerst nach ihnen? Und schirmt man sie ab, damit sich niemand daran stört und alles weitergehen kann wie bisher? Soll es nur so aussehen, als wolle man die Kinder beschützen, sie in Wirklichkeit aber loswerden, damit die Leute in Ruhe am Abgrund tanzen können?“
„Sie fährt fünfzehn Kinder in eine Zukunft, die keine mehr ist.“
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INHALT:
Die Welt scheint kurz vor ihrem endgültigen Zerfall zu stehen. Alles verwahrlost, auf den trockenen Feldern wächst nichts mehr, Seen sind gekippt, die Bäume wirken ausgezehrt und die Hitze macht den Menschen zusätzlich zu schaffen.
Während sich Haustiere plötzlich gegen ihre Besitzer wenden, erinnern sich Eltern nicht mehr an ihre Kinder, welche wiederum allergisch auf Erwachsene reagieren.
Um solche Kinder kümmert sich Krankenpflegerin Aria auf ihrer Station.
Als ein Überleben an diesem Ort für sie und die vergessenen jungen Leute immer unwahrscheinlicher wird und das Gesundheitssystem kaum noch funktioniert, flieht Aria mit ihrer Kollegin Marion und den fünfzehn Kindern, um gemeinsam die vermeintlich letzten Wochen in Würde zu verbringen.
Mit einem Bus schaffen sie es bis nach Einstadt, wo sie ein ehemaliges Badehotel am Meer gekauft haben, welches sie beziehen.
Dort werden sie skeptisch von den Einwohnern beäugt. Ein paar Cowboys und ihr Boss, Imre Brandt, haben es gar nicht gerne, dass sie sich hier herumtreiben.
Die Situation droht zu eskalieren, als Alia sich in den Kopf setzt, ein Pferd vom Strand retten zu wollen, was sich als schwieriges Unterfangen entpuppt.
Während die Männer ihr feindselig gegenüberstehen und über ihre Frauen herrschen, beginnen sich Letztere nach und nach zu emanzipieren und verbünden sich miteinander …
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MEINUNG:
Da mich die zwei vorherigen Bücher der Autorin ausgesprochen begeistert haben, waren meine Erwartungen an die hiesige Lektüre groß.
Der Schreibstil hat mir insgesamt gefallen, auch wenn mich an einzelnen Stellen die Umgangssprache etwas verwundert hat. Aber die Geschichte lässt sich flüssig lesen, ich hatte sie in einem Rutsch durch.
Besonders gut sind Stefanie vor Schulte die individuellen Charakterzeichnungen gelungen.
Und auch, dass sie die Frauen-Figuren über sich hinauswachsen lässt, die sich nicht länger von ihren Männern unterdrücken lassen wollen und sich verbünden, hat mir sehr zugesagt.
Dass sie Eltern ihre Kinder vergessen lässt und diese schließlich aus dem Blick einer der ganzen Gesellschaft geraten, kann sich als Gesellschaftskritik deuten lassen. Kinder werden häufig benachteiligt und ihre Sorgen und Bedürfnisse weniger ernst genommen. Mich hat es zudem an die Coronapolitik erinnert.
Die veränderten klimatischen Bedingungen lassen an den Klimawandel denken und sind dadurch gar nicht so weit hergeholt.
„Das dünne Pferd“ unterscheidet sich insofern von den anderen beiden Werken der Autorin, als es sich hier um ein dystopisches Setting handelt, in das Lesende ohne genauere Erläuterungen hineingeworfen werden.
Und das finde ich auch die größte Herausforderung an diesem Buch: Es bleibt insgesamt äußerst vage, sehr, sehr vieles bleibt ungeklärt, man muss eigene Interpretationen finden, z. B. auch, was das Pferd angeht.
Manchmal mag ich das, hier war es mir jedoch zu viel. Ich hatte nach der Lektüre mehr Fragezeichen, als dass ich mir über Dinge im Klaren war. Aber das ist selbstverständlich Geschmackssache. Gleichzeitig lädt dies zu eigenen Gedankengängen ein.
Manche Entwicklungen fand ich unglaubwürdig. Z. B.: Warum brauchen die Kinder in der Klinik und im Bus medizinische Versorgung wie Infusionen, neue Verbände, oder Hilfsmittel wie Rollstühle usw. und im ehemaligen Badehotel ist davon nie die Rede? Im Gegenteil, da rennen die Kinder los, klettern problemlos den steilen Hang zum Strand hoch und runter (den ein Pferd z. B. nicht nach oben bezwingen kann), usw. Sicherlich kann die bessere Umgebung einiges am Gesundheitszustand ändern. Aber so fand ich es nicht glaubwürdig dargestellt.
Ebenso bei den Tieren, die sich anfangs gegen ihre Besitzer wenden. Ich mochte das Element, das bei den „Bösen“ eingesetzt, auch mal bei den Lesenden Schadenfreude verursacht. Bei mir hat es kurz Stephen-King-Vibes ausgelöst. Aber mir wurde es nicht zuverlässig und glaubwürdig genug fortgesetzt.
Trotzdem hatte das Buch das „gewisse Etwas“, das mich immer weiterlesen ließ.
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FAZIT: Die Idee, die Ansätze, die Figuren und die Gesellschaftskritik mochte ich gerne. Aber ich wurde nicht aus allem schlau. Manches war mir zu unglaubwürdig, bzw. nicht zu Ende geführt und am Ende blieben bei mir sehr viele Fragezeichen. Dennoch hallt es noch lange in mir nach. Ich würde euch die Lektüre dann empfehlen, falls euch dystopische Geschichten reizen und ihr euch an sehr viel Freiraum für eigene Interpretationen erfreuen könnt. 3,5/5 Sterne!
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C. N.: u. a. Armut, Tod, Blut, Gewalt an und Unterdrückung von Frauen, Suizidalität, tote Tiere