Hommage an den Jazz im Chicago der 20er Jahre
Im Jahr 1915 teilen der 15jährige Benny Lehrman und die einige Jahre jüngere Pearl ein schockierendes Erlebnis: sie werden Augenzeugen des Untergangs der "Eastland" im Chicago River. Viele Jahre soll es dauern, bis sie sich wiederbegegnen und die Folgen dieses traumatisierenden Ereignisses überwinden.
Benny hat es auch sonst nicht leicht im Leben: er kann seinem Vater nichts mehr recht machen, seitdem dieser ihn für den Tod des jüngeren Bruders verantwortlich macht. Außerdem möchte Benny, der seit seiner Kindheit Klavierunterricht erhält, lieber die neue aufkommende Jazzmusik spielen als Klassik. Wenn er durch die schwarzen Viertel Chicagos läuft, um die Waren aus Vaters Mützenfabrik auszuliefern, lauscht er immer wieder dieser neuen Musik. Gegen den Willen seiner Eltern, die eigentlich wollen, dass er Vaters Fabrik übernimmt, wird er zum gefragten Jazzpianisten, der auch selber komponiert.
Auch Pearls Leben ist nach dem Schiffsunglück, bei dem sie drei Brüder verlor, nicht mehr wie zuvor. Ihre Familie führt ein Lokal in Chicago, in dem abends musiziert wird und wo die beiden jungen Leute sich in den 1920er Jahren wiederbegegnen.
Mary Morris' Roman transportiert jede Menge Atmosphäre aus dem Chicago der 20er Jahre, vor und während der Prohibition und Weltwirtschaftskrise. Wir begegnen aus den Südstaaten in den Norden übergesiedelten Schwarzen, die zwar der Sklaverei entkommen, aber immer noch Objekte von Rassismus sind, wir begegnen europäischen und jüdischen Einwanderern und ihren Nachkommen, wir begegnen Gangstern und Arbeitern, Armen und Reichen. Auch echte historische Personen wie Al Capone, Louis Armstrong, King Oliver und Bix Beiderbecke haben ihre Auftritte in diesem Roman.
In Bennys Kapiteln wird gut veranschaulicht, wie sein eigenes Erleben und das Leben der Menschen um ihn herum sich in seinen Jazz- und Blueskompositionen niederschlägt. Pearls Familie bietet den Rahmen für die Musik, mit ihrem Lokal, in dem allabendlich musiziert wird und in dessen Hinterzimmer auch während der Prohibition Alkohol ausgeschenkt wurde. Das Lebensgefühl der 20er Jahre erscheint plastisch vor dem inneren Auge des Lesers. Dazu tragen auch Nebenfiguren wie der schwarze Trompeter Napoleon Hill bei, der im Lauf der Zeit Bennys Freund wird, sowie Bennys und Pearls Geschwister und Freunde, und andere. Es geht sehr viel um Musik, wenn auch nicht besonders tiefgründig und einiges wiederholt sich auch.
An der Geschichte habe ich nichts auszusetzen, zumal ich Alltags- und Familiengeschichten liebe. Mein stärkster Kritikpunkt betrifft den Schreibstil, der mir gar nicht gefiel. Für meinen Geschmack wird hier allzusehr mit Adjektiven, nicht immer zutreffenden Vergleichen und wortreichen Metaphern gearbeitet, so dass Beschreibungen oft zu überladenen Aufzählungen ausufern, die durch Kommata aneinandergereiht werden. Dies trägt nicht zum Verständnis und zur Visualisierung des Gelesenen bei, im Gegenteil. Anfangs fiel es mir deswegen schwer, in einen Lesefluss hineinzukommen.
Abgesehen davon: ein unterhaltsamer, sehr interessanter und atmosphärisch dichter Roman zum Thema Lebensgefühl und Jazz im Chicago der 20er Jahre.