Anspruchsvoll, düster, authentisch
Für Eilige:
Das Berlin, das Martin Förster uns in seinem Roman »Entfesselte Zukunft« vorstellt, erinnerte mich an das London Oliver Twists, wie es uns Charles Dickens gezeigt hat, auch wenn die Namen von Straßen und Plätzen authentisch sind. So ist das Setting ein düsteres und passt als Crossover von Fantastik und Kriminalroman zum Genre Steampunk ebenso wie zur geheimnisumwobenen Handlung, den undurchsichtigen Hauptfiguren und den heruntergekommenen Nebencharakteren. Auch die Sprache klingt dumpf und bedrohlich. Der Prolog, der sich inhaltlich wie stilistisch vom Roman abhebt, erhält seinen Bezug zur Handlung erst gegen Ende des Buches.
Inhalt:
Berlin zur Kaiserzeit. Dieser Eindruck scheint sich ab dem ersten Kapitel zu bestätigen. Doch nein, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wird ein Königreich Deutschland zerrissen zwischen den Anhängern einer neuen, technologisch ausgerichteten Zukunft und einigen Verbliebenen, die die Magie nicht sterben lassen wollen. Während die Sonderermittlerin Marie Nestling sich einem Befehl gehorchend mit dem abgehalfterten und trunksüchtigen ehemaligen Polizeihauptmann Wilhelm Lämmle abmüht, einen Ritualmord aufzuklären, decken weitere Morde ihr eigenes und Lämmles dunkles Geheimnis auf. Ist ihr gegenseitiges Misstrauen gerechtfertigt, welche Rolle spielen ihre Vorgesetzten, und welches Ziel verfolgen die politischen Ränkeschmiede vor dem Hintergrund eines drohenden Krieges?
Schreibstil:
Försters Schreibstil ist anspruchsvoll. Dem Leser präsentiert er etwas, das auch ich in meinen Büchern pflege: die Abkehr vom schulaufsatzmäßigen Satzbau. Subjekt, Prädikat, Objekt – diesen Standard hat der Autor gottlob überwunden. Nur sind seine Sätze oft länger und tiefer verschachtelt als meine. Dadurch bilden sie eine Parallele zur nur scheinbar geradlinig voranschreitenden Handlung, deren Logik oft genug erst durch Gedanken und Dialoge über die Vergangenheit deutlich wird. Klar zum Ausdruck bringt Förster das deutsche Weltbild zur Jahrhundertwende – den preußischen Gehorsam. Ihn zeigt er uns treffend in den Absichten und in den Bedenken der Hauptpersonen, die sie in Gesprächen wie auch im Selbstgespräch kundtun. In einem bildgewaltigen „Show, don’t tell“ bestimmen diese Rückbesinnungen, das ungemütliche Winterwetter, der unheilvolle Widerstreit zwischen Anhängern der modernen Technologie und den Verteidigern einer aussterbenden Magie sowie das morbide Stadtbild Berlins die dunkle Stimmung des Romans. Dazu tragen auch die Ecken und Kanten und die sehr gut charakterisierenden Zweifel und Selbstzweifel Nestlings und Lämmles bei – Personenbeschreibungen, die sich nicht an Äußerlichkeiten klammern.
Fazit:
Ein spannender Plot, plastische Figuren, mit denen sich der Leser bis zu ihrer Wandlung gern identifiziert und mit denen er mitfiebert, sowie ein düsteres Ambiente bestimmen diesen mitreißenden Roman. Das Bild des alten Berlins wirkt trotz der für Steampunk typischen und detailliert beschriebenen alternativen Technologie authentisch, auch die Handlung entwickelt sich entsprechend ihrer Historie logisch. Mit genau diesem Ursprung jedoch bin ich nicht recht glücklich. Zu mystisch und zu satanisch – oder doch eher zu göttlich? – scheint mit das Motiv, das die Schicksale Nestlings und Lämmles mal verwebt und dann wieder trennt, wobei sie selbst sich ihrer Manipulation nicht entschieden entgegenstellen. Für diese – vielleicht nur von mir nicht verstandene – Komplexität ziehe ich einen Punkt von der Bestnote ab. Ich empfehle »Entfesselte Zukunft« all jenen, die einen anspruchsvollen, düster-plastisch, authentisch und packend geschriebenen Roman über eine von uns nicht wahrgenommene Vergangenheit zu schätzen wissen. Das von Förster vorgestellte Weltbild finden wir in den Geschichtsbüchern jedoch exakt so aufgezeichnet.