Das Schicksal eines Verdingkindes & dessen Auswirkungen auch auf nächste Generationen
C.N.: v. a. Misogynie, Armut, Ableismus, fragwürdige Erziehungsmethoden
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„Die Kinder werden verdingt, auch das ist ein neues Wort für Martha. Später wird sie denken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden.“
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INHALT:
Marthas Familie hat nicht viel zum Leben, aber sie haben einander.
Doch als der Vater nach einem Unfall nicht mehr arbeiten kann, spitzt sich die Lage zu. Auf dem Sofa liegend, gibt er kaum noch Laute von sich. Einen Arzt oder Medikamente können sie sich nicht leisten.
Die Mutter versucht, durch viel Arbeit bei benachbarten Bauern, Lebensmittel zu ertauschen.
Als der Vater schließlich stirbt, kann sie jedoch nicht verhindern, dass ihre sechs Kinder zu anderen Bauern gehen müssen, um dort für Nahrung und einen Schlafplatz zu arbeiten.
Die einzelnen Familienmitglieder verlieren sich aus den Augen.
Die junge Martha ist zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt, als sie zu den Bürgis kommt, hart arbeiten muss und am Tisch immer zuletzt das übrige Essen bekommt. Zudem muss sie sich um den behinderten Sohn der Familie kümmern. „Der Auffällige, der gar nicht richtig spricht, heißt Severin.“ Beim Spazierengehen soll sie ihn an einem Ledergeschirr führen. Aber der 14-Jährige hat viel Kraft …
„Sie blieb lange bei den Bürgis, zu lange, sagte sich Martha hinterher. Aber was sollte sie sonst? Über Martha bestimmten andere. Und sie erwies sich als fleißig und anstellig, deshalb wollten die Bürgis sie behalten.“
Martha möchte unbedingt der Armut entfliehen, gibt sich in der Schule große Mühe und arbeitet später mit vollem Einsatz in der Fabrik.
Sie lernt den Schuhmacher Jakob kennen, sie heiraten und bekommen zwei Kinder, zu denen Martha kaum eine Bindung aufbauen kann.
Durch den Krieg in den Nachbarländern wird auch in der neutralen Schweiz vieles knapper. Und als Jakob erkrankt und immer schwächer wird, bekommt Martha es mit der Angst zu tun, dass sich ihr vergangenes Schicksal bei ihren eigenen Kindern wiederholen könnte …
Die Erfahrungen von Martha, ihr unermüdlicher Arbeitseifer, ihr Streben nach sozialem und finanziellem Aufstieg, ihr harter Umgang mit sich und ihren Mitmenschen sowie ihr Verbergen jeglicher Schwäche, prägen ihre Söhne. Und schließlich auch ihre Enkel, die sich ein viel freieres Leben erträumen …
„Immer wieder staunte er, woher seine Familie kam, und wenn er allmählich den Drang seines Vaters besser verstand, um jeden Preis voranzukommen, so verurteilte er innerlich doch, was Toni [sein Vater] dafür alles aufgab.“
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MEINUNG:
Im Nachwort erzählt Lukas Hartmann, dass dieses Buch auf der eigenen Familiengeschichte und damit auch auf dem Schicksal seiner Großmutter Martha, aufbaut.
Es ist immer wieder erschreckend, von den Erlebnissen von Verdingkindern zu lesen, die in so jungem Alter hart arbeiten mussten, um zu überleben.
Am meisten beeindruckt hat mich an dieser Lektüre, wie sehr so ein Schicksal das ganze spätere Leben und vor allem auch die anschließenden Generationen prägen kann.
Martha ist ihr Leben lang getrieben von Arbeit, um ja nicht wieder in die Armut zu rutschen und um ihre Kinder vor den eigenen Erfahrungen zu verschonen. Und auch ihr Sohn strebt nach Anerkennung und Wohlstand.
Beide wirken im Erwachsenenalter äußerst kühl und nicht gerade liebevoll im Umgang mit den eigenen Kindern. Die Arbeit geht stets vor.
Es schmerzt, dass Martha keine emotionale Bindung zu ihren Kindern aufbauen kann und wie befehlshaberisch Toni später mit seiner Frau umgeht. Die Frau hat den Haushalt einwandfrei zu führen, das Essen muss pünktlich auf dem Tisch stehen und wehe das Kind schreit.
Insgesamt wird deutlich, wie sehr Frauen damals von ihren Männern abhängig waren. Dass Martha trotzdem für ihre Selbstständigkeit kämpft, fand ich zum Teil sehr bewundernswert (hätte sie dafür nicht ihre Kinder vernachlässigt).
Inhaltlich fand ich das Buch wirklich gut.
Und auch die kurzen Kindheitsbeschreibungen der drei Generationen sind einfühlsam beschrieben.
Aber sonst kann ich mich den positiven Stimmen zum Buch leider nicht ganz anschließen.
Die Zeit als Verdingkind von Martha war mir zu kurz und nicht immer differenziert genug geschildert. Hier hat mir etwas gefehlt, um ihr hartes Schicksal besser nachempfinden zu können.
Und dadurch, dass sowohl Martha als auch ihr Sohn Toni so kühl im Umgang mit ihren Mitmenschen wirken und einen kaum an ihrem Innenleben teilhaben lassen, blieben sie mir als Erwachsene beim Lesen leider viel zu fern.
Dieses Gefühl der Distanz wurde durch größere Zeitsprünge immer wieder zusätzlich verstärkt.
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FAZIT: Das Buch lässt mich insgesamt zwiegespalten zurück. Inhaltlich stellt es erschreckend gut dar, wie sehr das Schicksal eines Verdingkindes das eigene Leben und das der nächsten Generationen beeinflussen kann – das habe ich bisher so bei keinem anderen Buch gelesen.
Doch der Funke wollte nicht überspringen. Die Figuren blieben mir überwiegend zu distanziert und die Zeit als Verdingkind hätte ich mir ausführlicher geschildert gewünscht, um mehr Mitgefühl aufbringen und die Geschichte mehr verinnerlichen zu können. 3-3,5/5 Sterne!