Dr. Hans Asperger & der Umgang mit Asperger Autisten während der NS-Zeit
C.N.: v. a. Ableismus (!), Euthanasie(!), Kindesmisshandlung, Antisemitismus
----
„Und was soll das ganze Gerede über lebenswerte und lebensunwerte Schwach*innige? Das ist schrecklich. Wir können doch nicht Gott spielen. Er entscheidet, was lebenswert ist, aber nicht wir Menschen.“
(Bitte den historischen Kontext bzgl. des damaligen Wortes für Menschen mit psychischer Erkrankung/ Behinderung beachten!)
----
INHALT:
Wien, 1986: Die 28-jährige Psychologin Sarah aus England möchte in Wien für ihre Doktorarbeit forschen. Sie widmet sich dabei dem Dr. Hans Asperger und seiner Entdeckung des Asperger Autismus. Sarah bewundert den Arzt, der Autismus aus der defizitorientierten Ecke herausgeholt und erkannt hat, dass Menschen mit Autismus die Welt mit anderen Augen sehen sowie dass manche von ihnen besondere Inselbegabungen besitzen.
Bei ihrer Recherche lernt Sarah Stefan, einen angehenden Journalisten kennen und wird auf die erschütternde Geschichte der nahen Kinderklinik am Spiegelgrund während der NS-Zeit aufmerksam. Als dabei auch der Name von Dr. Hans Asperger auftaucht, gerät Sarahs Bild des renommierten Arztes gehörig ins Wanken …
Wien, 1932: Der 8-jährige Erich kommt in die Heilpädagogische Abteilung der Universitätsklinik Wien. Er spricht nicht, lässt sich nicht mit anderen Kindern unterrichten, schreit und schlägt sich mit den Fäusten gegen den Kopf.
Während andere Ärzte den Jungen als hoffnungslosen Fall mit Beruhigungsmitteln, Gewalt und einer Zwangsjacke ruhigstellen wollen, scheint Dr. Hans Asperger einen speziellen Draht zu ihm zu haben.
Erich hat eine große mathematische Begabung. Zahlen geben ihm Sicherheit und nehmen ihm die Angst, während die Welt um ihn herum zu laut und zu grell auf ihn einprasselt. Zu Menschen lässt er keine Nähe zu und es scheint ihm schwerzufallen, Gefühle zu zeigen.
Krankenschwester Viktorine gelingt es mit viel Geduld und genauer Beobachtungsgabe, eine Beziehung zu dem Kind aufzubauen.
Doch als sich die Nationalsozialisten immer mehr in die Arbeit von Kliniken einmischen und sich Dr. Hans Asperger als Leiter an vorgegebene Regeln hält, macht Viktorine eines Tages eine unglaublich schreckliche Entdeckung. Sie wird zum Stillhalten verpflichtet und für Kinder wie Erich, geht es um Leben und Tod …
----
MEINUNG:
Mittlerweile habe ich schon einige Bücher zum Thema Autismus gelesen, doch über den historischen Kontext und die Person Dr. Hans Asperger tatsächlich noch nichts. Dafür war „Aspergers Schüler“ nun ideal!
Der Roman enthält eine Menge interessanter Sachinformationen, was ich richtig toll finde. So lernt man ganz nebenbei etwas dazu, lebendig eingebettet in eine Geschichte.
Dabei eignet sich das Buch auch für Lesende, die noch nichts über die Entwicklungsstörung wissen. Für mich war manches Wiederholung, was ich aber nicht schlimm fand. Denn der Schwerpunkt liegt auf dem historischen Aspekt. Für mich war es spannend, mehr über den zweifelhaften Arzt Dr. Hans Asperger zu erfahren, wie damals über Menschen mit Autismus gedacht und mit ihnen umgegangen wurde und was Sarah bei ihren Recherchen in Bezug auf die NS-Zeit erfahren muss.
Ich fand es sehr schrecklich und bedrückend, wie autistische Kinder früher in Zwangsjacken gesteckt wurden, wie ihnen Gewalt angetan wurde und wie sie mit Beruhigungsmitteln abgespeist wurden. Ganz davon zu schweigen, wie viele Kinder damals unschuldig in den Tod geschickt wurden. Man mag es sich kaum vorstellen …
Neu für mich war beispielsweise auch der damalige Begriff der „motorisierten Mütterberatung“ für motorisierte Ärzte- und Schwestern-Teams, die Kinder vor Ort untersuchten. Diese Maßnahme diente scheinbar vor allem auf dem Land dazu, „unwertes Leben“ aufzuspüren. Was für eine grausame Zeit!
Mit Erich habe ich sehr mitgefühlt. Die Schilderungen aus seiner Perspektive haben mir besonders gut gefallen. Vor allem seine Gefühls- und Gedankenwelt fand ich eindrücklich.
Seine Figur war überwiegend authentisch, die Wortwahl wirkte auf mich manchmal (trotz Autismus) nicht ganz dem Alter und Entwicklungsstand entsprechend (da bin ich bei Kinderperspektiven sehr sensibel).
An anderen Stellen hat mich das Buch vielleicht nicht so berührt, wie ich es von den Themen her erwartet hätte. Dafür fiel es mir so leichter, mich der schweren Thematik anzunehmen.
Am Anfang konnte der Gegenwartsstrang für mich nicht ganz mithalten, während ich den Teil der Vergangenheit direkt sehr spannend fand.
Doch mit der Zeit geht es bei Sarah (trotz einer gleichzeitigen Liebesgeschichte) glücklicherweise viel um ihre Forschungsergebnisse und ihre Gedanken dazu. Ab der Mitte etwa mochte ich dann auch die Erzählung der Gegenwart gerne und Sarah wurde mir immer sympathischer.
Besonders gut gefallen hat mir, wie die beiden Zeitebenen und die zahlreichen Perspektiven harmonisch ineinandergreifen und sich prima ergänzen.
Die Autorin selbst arbeitet seit Jahren als Frühförderin mit Kindern aus dem Autismus-Spektrum, weshalb ihr dieses Thema besonders am Herzen liegt.
Dies merkt man beim Lesen und ich freue mich, dass daraus dieser wunderbare und wissenswerte Roman entstanden ist!
----
FAZIT: Ein eindrücklicher Roman über den früheren Umgang mit Asperger Autisten, ihrem „Entdecker“ Dr. Hans Asperger, dessen zweifelhafte Rolle während der NS-Zeit und die schrecklichen Verbrechen an kranken und behinderten Kindern. Bemerkenswert, wie viel historisches Sachwissen hier geschickt in die Geschichte eingearbeitet wurde! 4-4,5/5 Sterne und eine klare Empfehlung für euch, falls ihr es mit den hiesigen Themen aufnehmen wollt!