Glaubhafte Auseinandersetzung mit Mobbing, Erpressung und Vergewaltigung
„Vertraute Qualen“ ist der zweite Band von Kirsten Nähles Kriminalroman-Trilogie und somit Nachfolger ihes Krimi-Debüts „Zwölf Sünden“. Widerum steht das Würzburger Ermittler-Duo Victoria Stahl und Daniel Freund im Mittelpunkt des Geschehens. Recht unterhaltsam wird der Leser gleich von Beginn an mitten in die Handlung geworfen und es dauert einen Augenblick bis er sich zu orientieren vermag. Sobald man aber die Protagonisten von den Nebencharakteren zu unterscheiden gelernt hat, lässt sich der Handlung leicht und problemlos folgen.
Gleich zu Beginn befindet sich der 16-jährige Leon angetrunken auf dem Nachhauseweg von einer Party. Den letzten Bus hat er verpasst, seine ein Jahr jüngere Freundin Marie war nicht auf der Party und in der Hoffnung bei ihr übernachten zu dürfen, ruft er sie an. Marie nimmt seinen Telefonanruf allerdings nicht entgegen und so muss er also mit einem längeren Fußmarsch ans andere Ende der Stadt vorlieb nehmen, bis ein Auto anhält und ein ihm bekannter Fahrer vorschlägt ihn heim zu fahren. Leon steigt zögerlich ein und es wird lange dauern bis wir wieder von ihm hören - auf welche Weise sollte an dieser Stelle nicht vorweggenommen werden. Weitere männliche Teenager aus Leons Klasse verschwinden und gleich mehrere Personen, unter ihnen auch die Lehrer der Schüler, geraten als potentielle Täter ins Fadenkreuz der Ermittlungen und stehen unter Verdacht. Besondere Brisanz und Dramatik erhält der Plot dadurch, dass Leons Freundin Marie die Tochter der ermittelnden Oberkommissarin Stahl ist. Zu den Hauptcharakteren hinzu gesellt sich der schüchterne Außenseiter Samuel, der von seinen Mitschülern keinerlei Beachtung findet, gemobbt, erpresst und aufs Übelste erniedrigt wird. Darüber hinaus werden dann als Ausgleich zur spannenden Haupthandlung und zur durchaus sehr kritischen Thematik des Mobbings zum Durchatmen für den Leser die jeweiligen privaten Probleme in Ehe bzw. Beziehung des Ermittlerduos mit eingestreut und es entfaltet sich eine durchaus interessante Kriminalgeschichte, bei welcher der Leser über weite Strecken die Gelegenheit zum Mitermitteln und -rätseln bekommt. Die Handlung folgt dabei einem „Geradeauskurs“ ohne größere Schnörkel und Abschweifungen.
Insgesamt ist der flotte Schreibstil von Kirsten Nähle sprachlich eher einfach gehalten, Sätze sind nur äußerst selten kompliziert aufgebaut. Die einzelnen, kurzen Kapitel aus diversen Perspektiven sind mit den jeweiligen Namen der Protagonisten überschrieben. Die Geschichte wird auch Tempo-reich, recht spannend und schlüssig erzählt, ohne zu viel vorab bereits zu verraten, ist für den Leser auch sehr gefällig geschrieben und ein Spannungsbogen wird zunehmend aufgebaut - ja, bis zu dem Punkt, als sich der Täter dann zufällig, unvorsichtig und völlig unnötigerweise im Prinzip fast schon selbst verrät. Hier gibt es eine etwas enttäuschende Wendung und ab diesem Zeitpunkt ist die Handlung dann äußerst vorhersehbar und leider reißt hier dann auch der zuvor aufgebaute Spannungsbogen zwar nicht komplett, aber dennoch spürbar ab. Trotzdem ist der Krimi weit davon entfernt, ein schlechter Roman zu sein und in einer Hinsicht dann sogar mehr als herausragend: Denn Kirsten Nähle greift einige Probleme der heutigen Gesellschaft auf und thematisiert insbesondere Mobbing, Erpressung, Vergewaltigung und Sex mit Minderjährigen – nicht, dass es das nicht schon immer gegeben hätte, aber diese sehr problematischen Herausforderungen haben in der heutigen Zeit enorm zugenommen und sind bedauerlicherweise bereits zum Alltagsgeschehen geworden. Und in der Auseinandersetzung mit genau dieser Problematik besteht die eigentlich wahre Stärke des Buches. Ohne große Umschweife wird dies hier nicht tabuisiert, sondern in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt, was den Leser zum Nachdenken über sich selbst, seine Kinder oder Enkel ermuntert und die Frage aufwirft, wo habe ich in der Vergangenheit vielleicht selbst jemanden gemobbt, allzu leicht und bequem weggesehen oder möglicherweise zumindest nicht entschieden genug dagegen opponiert. Äußerst sympathisch ist in diesem Zusammenhang ferner, dass das Ermittler-Duo, unterstützt durch weitere Personen in ihrer Einheit bei der Kriminalpolizei, nicht einfach nur seinen Job durchführt, sondern mehrfach auch sich selbst kritisch nach Fehlern und Versäumnissen hinterfragt.
Bis sich dem Leser die Bedeutung des Buchcovers, eine hellblaue Gartenlaube auf einem kleinen Grundstück in einen gelblichen Schimmer getaucht, oder der Buchtitel „Vertraute Qualen“ erschließen, dauert es eine gehörige Weile, final wird ihm der Zusammenhang dann aber nach ca. 2/3 des Buches komplett klar.
Fazit: „Vertraute Qualen“ ist der spannende zweite Band von Kirsten Nähles Kriminalroman-Trilogie, der durchaus zu überzeugen vermag, bei welchem jedoch ab einem gewissen Punkt die Handlung ein wenig zu vorhersehbar wird. Unterm Strich bleibt aber die Spannung dennoch einigermaßen erhalten und seine größte Bedeutung erhält der Kriminalroman durch seine kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen Thematik von Mobbing, Erpressung und Vergewaltigung in der heutigen Gesellschaft. Auf dieser Ebene besticht „Vertraute Qualen“ und ragt im Vergleich zu anderen Büchern dieses Genres deutlich heraus. Als Leser dürfen wir nun dem bereits angekündigten dritten und letzten Band der Trilogie „Frische Wunden“ entgegen fiebern, in welchem eine Frau grausam getötet und ein Baby entführt wird. Wir dürfen gespannt sein, wie Victoria Stahl und Daniel Freund in diesem Fall dann ermitteln und ihn lösen werden.
Rezension von Michael_B_M