Das Licht im Dunkeln
„Es war immer der gleiche Traum. Er verfolgte sie schon seit vielen Jahren, und sie rannte darin immer, floh vor einer namenlosen Bedrohung, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Aber es war kein Monster, das sie verfolgte. Es war nicht mal eine konkrete Gestalt. Nur ein dunkler, gesichtsloser Schatten. Er würde ihr wehtun, wenn sie stehen blieb, auch wenn er stets flüsternd das Gegenteil behauptete. Er log, das wusste sie instinktiv, deshalb lief sie um ihr Leben...“ (Seite 10)
Als Lexie Cavendish wegen dieses Albtraums wieder einmal schlafwandelt, steht sie nach dem Erwachen mitten auf der Straße und wird fast von einem Auto überfahren. Zwei Jahre hatte sie Ruhe vor diesen Angst einflößenden Bildern. Es ging ihr bis dahin gut, sie übt ihren Traumjob als Innenausstatterin bei Howard Enterprises aus und will nach einer frühen Kurzehe nach vorne blicken. Bis sie vor das Auto von Grayson Fitzgerald gerät.
Der junge Mann entpuppt sich allerdings nicht nur ein Kontrahent ihres Chefs, in dessen Auftrag sie ins nordirische Cerigh reist, um Pläne für die Umgestaltung der Innenräume Burg Dunmor Castle zu entwerfen, sondern auch unehelicher Sohn des derzeitigen Eigentümers Duncan O'Donnell, wobei Grayson nicht daran interessiert ist, dass Dunmor Castle an Howard Enterprise verkauft wird.
Von Anfang an spürt Lexie bei ihrer Ankunft in Cerigh eine merkwürdige Befangenheit. Nicht allein das Dorf, nein auch Dunmor Castle erscheint ihr seltsam vertraut. Und nicht nur das. Einige Bewohner sind irritiert von ihrem Auftauchen, lehnen sie ab, haben Angst, andere wiederum geben ihr Hinweise. Denn es überrascht nicht, dass sich bald die Vermutungen bestätigt, dass Lexies unterschwelligen Kenntnisse begründet sind. Als Kind war sie hier zu Hause, ihre Mutter Fiona hat einst auf Dunmor Castle gearbeitet, bis sie eines Tages verschwand und Lexie letzten Endes im Kinderheim landete. Ohne Zweifel ist dieses Verschwinden ursächlich für das Trauma von Lexie, mit dem sie das Geschehen in der Vergangenheit verdrängt. Aber kann sie Licht ins Dunkel bringen?
Kathryn Taylor hat mit „Dunmor Castle. Das Licht im Dunkeln“ eine wahrlich geheimnisumwitterte Geschichte ersonnen, die sie in der ihr eigenen angenehmen Leichtigkeit erzählt und die vor allem von der fesselnden Handlung profitiert. Von Anfang an schafft es die Autorin, eine durchgängig plausible, gleichwohl äußerst mysteriöse Atmosphäre zu beschreiben, in der die Träume, deren Bilder Lexie zum Schlafwandeln treiben, eine große Bedeutung darstellen. Die Autorin legt behutsam Spuren, von denen viele (noch) nicht zum Ziel führen. So entwickelt der Leser Hypothesen und Spekulationen, ohne jedoch tatsächlich zu Ergebnissen zu gelangen.
Kathryn Taylor spielt hervorragend mit den Mutmaßungen: Wie lässt sich die Ehrlichkeit jedes einzelnen einschätzen? Wer sagt die Wahrheit, wer lügt und warum?
So präsentieren sich ihre Figuren mit Licht- und Schattenseiten und bilden eine illustre Schar mit den unterschiedlichsten Eigenschaften, die beim Leser für Wohlwollen oder auch negative Empfindungen sowie ein Mitdenken und -fühlen sorgen. Viele haben etwas zu verbergen. Einige mögen es gar nicht, dass Lexie, nachdem klar ist, dass sie in Cerigh etwas über ihre im Dunkeln liegende Herkunft und Vergangenheit und ebenso das Schicksal ihrer Mutter erfahren kann, an alte Geheimnisse rührt. Auch diejenigen, die ihr wohlgesonnen sind, halten sich bedeckt. Andere sind offenbar sogar gefährlich.
Auf jeden Fall ist Lexie in etwas hineingeraten ist, dessen Ende sie nicht absehen kann.
Dabei hatte Lexie trotz trauriger Kindheit im Heim und einer frühen Ehe ihr Leben, das sie sich aufgebaut hat, auf die Reihe bekommen. Sie ist eine zurückhaltende junge Frau, geht einem Beruf nach, der ihr Freude bereitet und sie glücklich macht, und sie verfügt mit Betty über eine Freundin, die ihr den Rücken stärkt und auf ihrer Seite ist.
Kann sie da auch mit Grayson rechnen? Er macht durchaus einen sympathischen, freundlichen Eindruck, ist indes zugleich nicht wirklich durchschaubar, ja teilweise genauso rätselhaft wie die gesamten Ereignisse in Cerigh und auf Dunmor Castle.
Erfreulicherweise stellt Kathryn Taylor die sich zwischen Lexie und Grayson anbahnende Liebesgerschichte nicht komplett in den Vordergrund. Vielmehr schildert sie an Hand der vielen Begegnungen, wie sich das Verhältnis entwickelt, das von Ablehnung bis hin zur Anziehung zwischen den beiden reicht.
„Dunmor Castle. Das Licht im Dunkeln“ hat alles, was bei einer unergründlichen Geschichte vermutet werden kann: interessante Schauplätze, Geheimnisse, Abenteuer, Gefahren, Liebe, facettenreiche und undurchsichtige Figuren. Sie hat nur einen - wenn auch zu vernachlässigenden - Nachteil, sie ist nicht zu Ende erzählt und schließt mit einem Cliff“Hänger“ der besonderen Art. Es tröstet, dass „Der Halt im Sturm“ Ende August zu erwarten ist.