Intensiver Psycho-Schlagabtausch
Von tokall
In dem Thriller „Schweig!“ von Judith Merchant wird ein intensiver Psycho-Schlagabtausch zwischen der jüngeren Schwester Sue und ihrer älteren Schwester Esther zelebriert. Beide Schwestern sind dabei als Kontrastfigur angelegt, sie leben jeweils in ganz unterschiedlichen Welten, Esther mit ihrer vierköpfigen Familie in einer Wohnung in der turbulenten Stadt, Sue zurückgezogen und allein sowie kinderlos und frisch von ihrem Partner Robert getrennt, in einer Villa am Waldrand. Kurz vor Weihnachten treffen sie aufeinander und sie haben sich eigentlich nichts zu sagen. Für beide ist es eine lästige Pflicht der Beziehungspflege, und das wird plausibel und nachvollziehbar erzählt. Esther besucht Sue unter dem Vorwand, dass sie sich Sorgen um sie macht. Immer wieder wird von ihr ein Vorfall auf dem letztjährigen Weihnachtsfest als Begründung für die Besorgnis angedeutet, über den wir als Leser erst nach und nach etwas erfahren. Sue hingegen will die übergriffige und neugierige Esther einfach nur loswerden. Dafür ist sie sogar bereit, sie anzulügen. Doch Esther durchschaut die Lüge, kehrt zu Sue zurück, nachdem sie zwischenzeitlich zu ihrem Mann Martin und den Kindern zurückkehren wollte. Als Sue ihr die Tür nicht öffnet, bricht sie sogar in ihr Haus ein. Der Psychokrieg steuert nun auf einen Höhepunkt zu: Es kommt zu einer Aussprache zwischen beiden, Sue beschließt in die Offensive zu gehen und Esther offen ihre Meinung zu sagen, scheinbar zum ersten Mal. Dabei wird klar, wie gut Sue ihre Schwester kennt und in der Lage ist, sie gänzlich zu durchschauen. Und die bis dato wenig selbstreflektierte Esther scheint daraufhin tatsächlich Einsicht zu zeigen, sie will sich ändern, sie stellt sogar kurzzeitig ihr eigenes Leben in Frage. Doch dann taucht plötzlich Martin bei Sue auf.
Was den Roman so besonders macht und ihm überhaupt erst große und atemberaubende Spannung verleiht, ist meiner Meinung nach die sehr gute erzählerische Gestaltung der Perspektiven. So wählt die Autorin für beide Schwestern jeweils die Ich-Perspektive, die einander abwechseln. So sind wir jeweils an die Sicht einer Figur gebunden und folgen mal den Gedanken und Gefühlen der einen mal der anderen Schwester und wir sehen als Leser auch, welche Bewertungen beide Schwestern jeweils übereinander treffen. Dabei wird z.B. deutlich, wie stark Esther Sue nach den ihr selbst vertrauten Maßstäben bewertet, also nach dem, was sie selbst für normal hält. Sie ist wenig selbstreflektiert und hinterfragt eigene Wertungen überhaupt nicht. Als Leser fühlt man sich vor allem zu Beginn des Romans wie eine Art Mediator. Man hört sich beide Seiten an und weiß nicht, was stimmt; das, was Sue über Esther erzählt, oder das, was Esther über Sue berichtet. Beispiel: Ist Sue nun wirklich depressiv oder stempelt Esther Sue nur als krank ab? Das personale Erzählen im Wechsel verhindert eine übergreifende Sicht auf beide Figuren und das ist für mich große Erzählkunst. Nur aus ihrem Verhalten sowie ihren Dialogen lassen sich Rückschlüsse darüber ziehen, welche Schwester wohl näher an der Wahrheit liegt. Als Hilfsangebot wird dem Leser nach einem Drittel des Romans auch noch die Perspektive von Martin dargeboten. Ab diesem Zeitpunkt wird dem Leser klar, dass Esther tatsächlich keine einfache Person ist, auch Martin wird von ihr eingeengt und kontrolliert, er wünscht sich mehr Freiheit. Allerdings zeigt sich auch, dass Sue kompromisslos agiert, wenn es darum geht, sich an ihrer großen Schwester zu rächen. Hinzu kommt, dass Esther ein Kindheitstrauma erlebt hat, das ihr Verhalten möglicherweise sogar in gewisser Weise verstehbar werden lässt. Darüber wird in einzelnen eingeschobenen Rückblick-Kapiteln berichtet. Was mich etwas ratlos zurückgelassen hat, ist lediglich das Ende des Romans. Nach einem Zeitsprung von einem Jahr folgen wir zunächst den Gedanken von Sue und dann denen von Esther. Für mich waren die Gedanken der jüngeren Schwester dabei nicht plausibel, nach allem, was sie mit ihrer Schwester erlebt hat und was sie zuvor über sie gedacht hat.
Fazit: Ein fesselnder Psychothriller mit einer ausgefeilten Figurencharakteristik und spannender erzählerischer Gestaltung