Vielfältig verwobene griechische Mythen um die Jägerin und Kämpferin Atalanta
König Iasos von Arkadien, der Vater von Atalanta, lässt sie im Wald aussetzen, da er sich als Kind einen Sohn und damit Erben, nicht aber eine Tochter gewünscht hat. Das Baby stirbt jedoch nicht, wie vom König angedacht, sondern wird von einer Bärin gesäugt, die sich seiner ebenso wie ihrer Jungen annimmt, mit denen Atalanta gemeinsam groß wird. Als die Zeit gekommen ist und die Bärenmutter ihre Jungen verstößt, wandert auch Atalanta allein und ziellos durch den Wald, nachdem sie die einzige Mutter, die sie je kannte, verloren hat. Doch wieder hat das Mädchen Glück im Unglück, da sie auf Artemis, die Göttin der Jagd, trifft, unter deren Schutz sie fortan steht.
Obgleich Atalanta königlichen Geblüts ist, wächst sie nicht als hochwohlgeborene Prinzessin auf, sondern lebt in den Tiefen des Waldes, in die sich nur selten ein Mensch verirrt. Zunächst erachtet sie die Bärenjungen als ihre Geschwister, mit denen sie aneinander gekuschelt in der Nacht schläft und tagsüber spielt, aber bereits auch zu kämpfen lernt, und deren Mutter als ihre eigene, indem sie nichts anderes kennt. Nachdem sie ihre Bärenfamilie verloren hat, lebt sie an der Seite der Göttin Artemis, umgeben von deren Nymphen, in ihrem heiligen Hain. So wird Atalanta fernab von jeglicher menschlichen Zivilisation groß, so dass sie nicht um ihre Gepflogenheiten weiß Auch hat sie nie ein Dorf oder gar eine Stadt gesehen. Sie kennt nur den Wald, wo sie gelernt hat, sich selbst zu versorgen und zu schützen. Auch ist sie abgesehen von ihrem Bogen und den dazugehörigen Pfeilen sowie der Tunika, die sie am Leib trägt, und einiger gegerbter Tierfelle nicht mit materiellem Besitz belastet.
Atalanta ist auf eine Art und Weise stark, wie es nur selten Frauen in der griechischen Mythologie zugestanden wird. Denn sie ist absolut autark, da sie in der Lage ist, sich ganz auf sich allein gestellt nur mit dem, was der Wald zu geben hat, selbst zu versorgen. In der Wildheit der Natur erlebt sie eine Form von Freiheit fernab gesellschaftlicher Zwänge, wie sie sonst nie der Tochter eines Königs zugestanden worden wäre. Atalante und die Nymphen bilden eine Art von Prepper-Gemeinschaft, die jedoch ausschließlich aus Frauen besteht und das in Zeiten des mythischen Griechenlands. Aus dieser bereits in der Vorlage derart stark angelegten Figur der Atalanta hätte Jennifer Saint weit mehr herausholen müssen, verschenkt dabei aber Potential. Denn gerade mit den besonderen Eigenschaften, die Atalanta schon als Mädchen auszeichnen, wenn sie schneller und ausdauernder als die Nymphen laufen kann und ein besonderes Talent für die Jagd zeigt, tut sich die Autorin schwer.
Da hätte ich mir gewünscht, dass Saint den Mut besessen hätte, eine derart andere Frauengestalt, die jenseits typisch femininer Charakterzüge erst allein durch Autarkie und Unabhängigkeit, Stärke und Kampfgeist geprägt ist, konsequent in diesen Eigenschaften zu schildern. Stattdessen hat die Autorin Atalanta dabei oft zögerlich oder ein wenig unsicher erscheinen lassen, wenn sie selbst oft nicht so recht versteht, was da vor sich geht oder wer sie eigentlich ist. Das setzt sich dann leider in der Beschreibung von Artemis fort, die bei Saint zwar als begnadete, doch unbarmherzige Jägerin rüberkommt. Die Göttin wirkt stets unnahbar, obwohl sich Atalanta zu ihrer Favoritin entwickelt. Auch zeigt sie sich rachsüchtig, wenn eine ihrer Nymphen gegen die von ihr aufgestellten Regeln verstößt. Da hätte ich mir doch eine insgesamt ambivalenter ausfallende Charakterisierung von Artemis gewünscht. Bezeichnend ist, dass die Göttin lediglich in ihrer Funktion als Helferin bei der Geburt, wenn sie die Gebete der in den Wehen liegenden Frauen erhört, also der einzig klassischen Frauenrolle, die Artemis zukommt - positiv dargestellt wird.
Obgleich Jennifer Saint das erste Drittel ihres Romans der Kindheit und Jugend von Atalanta widmet, hat sich dieser für mich nicht in die Länge gezogen. Das ist dem geschickten Kunstgriff der Autorin zu verdanken, dass die Nymphen, bei denen Atalanta lebt, ihr oft des Abends Geschichten erzählen. Wenn sie also an sich ereignislose Tage in der Natur verbringen, bei denen sie nur im Fluss baden, eine neue Tunika weben oder Früchte wie Beeren sammeln und verzehren, dann sind nicht diese schönen Stunden im Roman geschildert worden, sondern die Erzählungen von der Welt außerhalb des Waldes oder aus vergangenen Zeiten, die die Nymphen an die junge Atalanta weitergegeben haben. Dadurch ist es Saint auch möglich gewesen, weitere Mythen, die nicht unmittelbar mit der Sage um Atalanta zusammenhängen, in ihr Buch mit einzubinden. Dazu zählen etwa die unglückliche Liebesgeschichte von Aphrodite und ihrem Jäger Adonis oder der Raub der Persephone durch den Unterweltgott Hades. Hinzu kommen verschiedene Mythen, die sich um Nymphen ranken.
Obwohl mir die Saga um Atalante ebenso wie die meisten anderen von Saint in ihren Roman integrierten Mythen zumindest in groben Zügen bekannt gewesen sind, hat sich für mich durch diese komprimierte Erzählweise das Lesevergnügen kurzweilig gestaltet. Dennoch denke ich, dass der Roman spannender für jene Leser ist, die weniger in der Welt der griechischen Mythen bewandert sind, so dass sie mit deren Erzählung und insbesondere von deren weiteren Verlauf und Ausgang noch überrascht werden können. In diesem Zusammenhang wäre ein Personenverzeichnis hilfreich gewesen, das leider nicht vorhanden ist. Darin hätte die Vielzahl der mythologischen Figuren, die Saint in ihrem Roman untergebracht hat, Erwähnung finden können. Diese umfassen neben Göttern beispielsweise auch die Nymphen als alterslose Töchter von Flüssen, Quellen, Ozeanen und Winden. Dazu zählen etwa Phiale, die einer Quelle mehr Wasser entlocken kann, Krokale, die Blumen erblühen lässt, wo ihre Füße den Boden berühren, oder Psekas, die einen feinen Sprühregen heraufbeschwören kann. Darüber hinaus hätte mich ein Quellenverzeichnis interessiert, mit dem die zahlreichen Mythen, die von Saint in ihrem Roman nacherzählt worden sind, belegt worden wären - gleich ob durch Verweise auf Werke im Original wie die Metamorphosen von Ovid oder Standardwerke im Hinblick auf deren Interpretation wie etwa von Robert von Ranke-Graves.