Zwischen Evolution und Revolution - Ein Disput kam leider nicht zustande
"Und Marx stand still in Darwins Garten"- Was ist das für eine wunderbare Idee, die beiden Heroen aufeinandertreffen zu lassen? Theoretisch wäre das möglich gewesen!
Karl Marx (1818 - 1883) und Charles Darwin (1809 - 1882) waren Zeitgenossen. Und sie lebten in London keine zwanzig Meilen (ca. 32 km) voneinander entfernt. Da ist es umso erstaunlicher, dass sie sich nie trafen, um miteinander zu diskutieren.
„Wie Darwin das Entwicklungsgesetz der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte...“ (S. 260 - Marx engster Freund Friedrich Engels in der Grabrede für ihn)
Die Autorin Ilona Jerger stellt in ihrem Buch das Jahr 1881 in den Mittelpunkt und beginnt
ihre Geschichte mit Darwin. Das Bindeglied zwischen den beiden großen Wissenschaftlern ist der Arzt Dr. Beckett, eine fiktive, ebenfalls nicht an Gott glaubende Person. Durch ihn wird der Leser sehr eingehend mit den unzähligen Beschwerden der beiden Männer vertraut gemacht. Die Autorin verliert sich hier meiner Meinung nach zu sehr in den Beschreibungen ihrer diversen tatsächlichen und eingebildeten Krankheiten.
Die Geschichte las sich gut, aber ich habe den Zeilen über Marx angemerkt, dass Ilona Jergers Sympathie mehr Charles Darwin galt. Wenn man in dem kleinen Heftchen, dass dem Roman beiliegt, das Interview durchliest, wird ihre etwas distanzierte Haltung zu Marx deutlich. Der Mohr, wie er von allen, die ihn mochten genannt wurde, kommt bei ihr nicht so gut weg. In dem 262 Seiten umfassendem Buch nimmt eindeutig der Bericht über Darwin den größeren Raum ein. Selbst der Disput zwischen den beiden Größen findet nicht statt. Die Tischgespräche fand ich nicht erwähnenswert, irgendwie unwürdig. Es wurde nicht diskutiert, auch nicht über Marx Credo:
„Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“
Nur ein stiller, gemeinsamer Spaziergang erfolgt in Darwins Garten, der schließlich in dem titelgebenden Satz mündet: „ Und Marx stand still in Darwins Garten“. Da wäre eventuell mehr drin gewesen.
Bei allen Gemeinsamkeiten, die Darwin und Marx dennoch hatten, darf nicht vergessen werden, wie extrem unterschiedlich die Lebensumstände der beiden großartigen Männer waren. In epischer Breite und in den schönsten Worten erzählt die Autorin über Darwin und seine Frau Emma. Sie war seine Cousine, eine geborene Wedgwood. Durch die gemeinsamen Großeltern Wedgewood waren sie verbunden mit der Porzellanmanufaktur Wedgewood, die auch heute noch existent ist. Die Familie verfügte daher über ausreichend Kapital, wobei Marx darüber nur schrieb. Mit seiner Frau Jenny, der Haushälterin Helene und den Kindern lebte er in ständiger Geldnot und in Armut.
Es ist der Debütroman von Ilona Jerger. Ihren Schreibstil finde ich sehr unterhaltsam. Ihre Sätze haben Ausdruckskraft und vermitteln eine schöne Athmosphäre. Vor allem in den Rückblenden zu Darwins Forschungsreisen, in seinen Naturbeobachtungen, bei seinen Versuchen mit Regenwurm und Co. entwickelt sie eine besondere Stärke in der Formulierung:
z. B. "Er hatte die Urgewalten gespürt, wenn die Erdkruste sich umbaut, Bruchkanten sich öffnen, Erdschichten aufplatzen, Spannungen in den Eingeweiden des Planeten sich entladen..."
Wenn auch Marx bei der Autorin zu kurz kommt, ich möchte an der Stelle daran erinnern, dass es 2017 gilt ein Jubiläum zu feiern: Marx' Hauptwerk Das Kapital wird 150 Jahre alt.
Insgesamt gesehen gelingt Ilona Jerger ein lesenswertes Buch, das mich immerhin dazu gebracht hat, mich wieder einmal eingehender mit den beiden Berühmtheiten zu befassen.
Von mir gibt es eine Lese-/Kaufempfehlung und vier von fünf Sternen!