Familie Henselmann: Deutsche Architekturgeschichte, Familienleben und Emanzipation, Politikgeschichte
Als 1959 ein internationaler Ideenwettbewerb für die Umgestaltung des Alexanderplatzes ausgerufen wurde, wurde Hermann Henselmann ausgeschlossen. Dennoch reichte er einen Entwurf für einen Turm ein, der nach Weiterentwicklungen verschiedener Architekten und Ingenieure als Fernsehturm seither das Bild Berlins maßgeblich prägt. Doch Henselmanns Karriere startete bereits in den späten 1920er Jahren. Nach seinem Vorbild Le Corbusier verwirklichte er Bauten ganz im Sinne des Bauhauses. Als zuerst die Nationalsozialisten und später die Führungsriege der DDR diese Stilrichtung ablehnte, musste sich Henselmann den neuen Idealen oft unterordnen – ohne jedoch immer wieder modernistische Ideen anzubringen und damit den Fortschritt anzutreiben.
Derweil versuchten seine Frau Isi und seine Tochter Isa ihre eigenen Lebensträume zu verwirklichen, was unter dem herrischen Architekten nicht immer einfach war… .
Hermann Henselmann zählt zu den einflussreichsten deutschen Architekten des vergangenen Jahrhunderts. In diesem Buch, das seine Enkelin Florentine Anders verfasst hat, lernt man ihn in vielen Facetten kennen. Daneben begleitet man mit Isi und Isa zwei Frauen aus seinem engsten familiären Umfeld bei ihrer Emanzipation.
Geprägt durch das Bauhaus zeichnen sich Henselmanns Ideen durch eine radikal modernistische Formgebung aus. In der DDR soll er sich jedoch den sozialistischen Vorstellungen der Politführung beugen. Man erfährt, dass er, der zum Chefarchitekten Ostberlins aufgestiegen war und sich in elitären Kreisen bewegte, dennoch immer wieder zukunftsweisende Entwürfe vorlegte. Als Architekt war Henselmann mutig, teils provokativ, angesichts der drohenden Gefahren für Kritiker der DDR-Führung aber auch leichtsinnig. Mehr als nur einmal ist er mit der Staatsführung aneinandergeraten und mehr als nur einmal musste er anschließend um Entschuldigung bitten. Dennoch hat er sich nie vollends unterworfen, sondern weiter in kleinen Schritten daran gearbeitet, seine Vorstellungen anzubringen. So ist es Henselmann selbst wichtig, als Architekt nicht als Produkt der DDR wahrgenommen zu werden, sondern als Gestalter des Landes nach seinen Idealen (S. 292). Von den Gebäuden, die nach seinen Plänen errichtet wurden, sind mir viele gut bekannt, was den Roman sehr anschaulich macht.
Neben seiner beruflichen Laufbahn kann man in „Die Allee“ auch einiges über den Menschen Hermann Henselmann lesen. Dieser war oft voller Jähzorn, konnte von einem Moment auf den anderen völlig ungehalten werden. Als Ehemann und Vater war er damit kein einfacher Charakter. Seine häufigen Affären und die Gewalt, die er gegenüber seinen Kindern anwendete, haben mich beim Lesen sehr betroffen gemacht. Bei all den Vorkommnissen habe ich großen Respekt vor seiner Frau, die immer zu ihm gehalten hat. Gleichzeitig kann ich gut nachvollziehen, dass sie daran arbeitete, ihre eigenen Träume in die Tat umzusetzen und damit aus dem Schatten ihres berühmten Mannes zu treten – nicht immer einfach mit acht Kindern. Unter diesen wiederum ist es vor allem das Schicksal der Tochter Isa, das ergreifend geschildert wird. Gleichzeitig ist es gerade ihr Lebensweg, der nach vielen Tiefpunkten zum Ende des Romans hin Hoffnung schenkt.
Obwohl der Roman der Familie Henselmann gewidmet ist, bietet er auch einen Einblick in die Erlebnisse einer jungen Familie im zweiten Weltkrieg, den Wiederaufbau in der Nachkriegszeit sowie die Gründung und den Zusammenbruch der DDR. Die kurzen Abschnitte, in die das Buch unterteilt ist, folgen dem chronologischen Ablauf der Ereignisse, sodass hier ein Kapitel der deutscher Politikgeschichte greifbar wird.
„Die Allee“ ist ein unglaublich vielschichtiger Roman und hat mich durchweg gefesselt. Große Empfehlung!