Wenn Alkoholismus & Gewalt die eigene Kindheit prägten - Empowernde Vergangenheitsbewältigung!
C. N.: V. a. Alkoholabhängigkeit, körperliche und psychische Gewalt, Wahnvorstellungen, Trauma & Dissoziation. Enthält ableistische Begriffe bzgl. psychisch erkrankter Menschen („humorvoller“ Versuch der Protagonistin, mit ihrem Trauma, durch den erkrankten Vater, umzugehen).
----
„Ich wünschte mir, eine Schildkröte zu sein. Den Rest meiner Kindheit durchschlafen zu können und als Erwachsene aufzuwachen.“
„Ich zählte und zählte erneut, die Sonntage, die ich noch mit Vater verbringen musste, bevor ich zwölf wurde. Es waren vierundfünfzig. Plus hundertzweiundfünfzig - denn nie würde ich Pinkie allein mit ihm losziehen lassen.“
----
INHALT:
Eines Tages findet Iggy in ihrem Genter Hauseingang zwei Bausäcke, die ihren Namen tragen, beladen mit Backsteinen.
Die Last, die sie in ihr Dachgeschoss schleppt, wiegt schwer. Es sind nicht nur die abgeschlagenen Steine eines Wandgemäldes ihres verstorbenen Vaters.
Mit ihnen kommen auch die Erinnerungen an die Kindheit mit einem alkoholabhängigen Elternteil, der zu körperlicher Gewalt neigte, das System der DDR verehrte, seine Kinder mit Gehorsam und Disziplin erzog und davon überzeugt war, von der Stasi verfolgt und ausspioniert zu werden …
Der Alkohol machte den Vater unberechenbar, die Töchter hatten Angst vor ihm.
Ihre Eltern stritten damals häufig lautstark. Es kam es vor, dass der Vater den vollen Kochtopf gegen die Wand warf, die Mutter schlug, Iggys Kopf mit Gewalt in den heißen Teller Kartoffelbrei vor ihr drückte oder das Trommelfell von Schwester Pinkie zum Platzen brachte.
Immer wieder war er in psychiatrischen Einrichtungen und Entzugskliniken, doch auch von dort aus schleppte er Iggy mit in die nächste Kneipe.
„Voller Stolz verriet er mir seine Tricks, mit denen er Alkohol in die Entzugsabteilung schmuggelte, offensichtlich war ihm entfallen, dass ich nur deswegen gekommen war, weil er am Telefon überzeugend behauptet hatte, schon Monate trocken zu sein.“
Zu Hause hatten sie einen Bestrafungskeller und in den Ferien wurden die Geschwister stets in ein Ferienheim mit Stasi-Methoden gesteckt, wo man ihnen Zucht und Ordnung beibringen sollte.
Iggy fragte sich oft, was sie wieder falsch gemacht hatte, bis sie begriff: „Es gibt nicht immer einen Grund, manchmal haben Väter einfach Hunger auf Wehrlosigkeit.“
„Er werde uns kaputt machen, schrie er. Das verwirrte mich. Wir waren doch schon kaputt. Niemand konnte zweimal kaputtgehen.“
Als Iggy die geerbten Backsteine zu einem Bild zusammensetzt, fehlen ein paar Steine.
Womöglich könnten es die Lücken in der Lebensgeschichte ihres Vaters sein, die Iggy nicht kennt, aber benötigt, um endlich mit der Vergangenheit abschließen zu können.
Gemeinsam mit ihrer Exfreundin Luka und ihrer treuen Mopshündin Kuro, begibt sie sich auf die Suche nach der Wahrheit …
„Meine Gedanken sitzen in einer Tram Richtung Kindheit und steigen immer wieder an der gleichen Haltestelle aus, an jenem Tag, als ich zu Stein wurde (…).“
----
MEINUNG:
Auf den ersten Blick kommt dieses Buch etwas unscheinbar daher. Der Mops auf dem Cover lässt die thematische Schwere und die Tiefe des Buches nicht erahnen. So wird man ganz unverblümt nach und nach an die Geschichte von Iggy und ihrer traumatischen Kindheit herangeführt und die hat es in sich …
Die Handlung wird zunächst aus der Gegenwart erzählt, wechselt dann immer wieder geschmeidig in die Vergangenheit über, wenn die Protagonistin von Erinnerungen eingeholt wird. Letztere stehen im Mittelpunkt der Geschichte.
Den Schreibstil von Autorin Femke Vindevogel und Übersetzerin Ingrid Ostermann würde ich als metaphernreich beschreiben. Außerdem werden unbelebte Gegenstände häufig mit Verben verbunden (Personifikation).
Ich habe ein paar Sätze benötigt, um mich daran zu gewöhnen, aber dann gefiel er mir immer besser. Vor allem die Gefühls- und Gedankenwelt der Protagonistin kommt so hervorragend zur Geltung, unterstützt die melancholische Stimmung in der Geschichte und hat mich berührt.
Iggys Bewältigungsstrategie war bisher vor allem das Verschweigen ihrer Vergangenheit. Doch auch, dass sie vieles mit einer humorvollen Note würzt, kann als solche verstanden werden. Dies fand ich genial gelöst, da es die schmerzhaften Erinnerungen an ihre Kindheit damit für Lesende etwas ausbalanciert. Sonst hätte ich das Buch vielleicht als etwas zu deprimierend empfunden.
Die Protagonistin zeichnet sich durch eine starke Resilienz aus, sie lässt sich erstaunlicherweise nicht unterkriegen und kann mit der Zeit endlich manches hinter sich lassen und nach vorne schauen.
Damit enthält das Buch trotz seiner thematischen Schwere auch einen Hoffnungsschimmer.
Dennoch haben mich die Schilderungen des alkoholabhängigen Vaters und seinen „Eskapaden“ seinen Kindern gegenüber, regelmäßig betroffen gemacht. Es muss schlimm sein, wenn man regelmäßig um sein Leben fürchten muss und es macht wütend zu lesen, welches Leid die Töchter erfahren mussten und wie die Mutter sein Verhalten rechtfertigte. Ja, er war krank, er hat getrunken. Aber was er seiner Familie dabei angetan hat, war für diese schwer zu ertragen.
Ich musste das Buch immer wieder zur Seite legen und sacken lassen.
Es ist eine Lektüre, die auch nach dem Lesen noch eine Weile in einem arbeitet …
Leseempfehlung (unter Beachtung der Content Notes am Anfang meiner Rezension)!