Ludwig der Fromme und seine Söhne
In seinem historischen Roman „Das Erbe der Karolinger“ entführt Claudius Crönert den Leser in die Jahre 817-840 in das fränkische Reich. Im Mittelpunkt stehen Ludwig der Fromme, seine Ordinatio Imperii und die immer wieder eskalierenden Streitigkeiten und Machtkämpfe zwischen ihm und seinen Söhnen.
Schon auf den ersten Seiten spüre ich, Ludwig hat es gerne beschaulich. Ihm steht der Sinn nach friedlichen Lösungen. Sein Sohn Lothar ist ganz anders eingestellt. Lothar wirkt oft launisch, ist fast krankhaft ehrgeizig und will jede Unruhe im Land und an den Grenzen mit kriegerischen Maßnahmen abwenden.
In einem zweiten Handlungsstrang lerne ich Judith kennen, älteste Tochter von Welf I., einem alemannischen Grafen. Judith wird im Verlauf des Geschehens eine wichtige Rolle spielen. Sie wird von dem im Jahr 818 verwitweten Ludwig bei einer Brautschau als seine zweite Ehefrau ausgewählt. Die willensstarke Judith weiß ihren Status als neue Kaiserin zu nutzen und beeinflusst nicht nur die Entscheidungen innerhalb der Familie, sondern auch die Entwicklung des gesamten Reiches.
Durch die Ordinatio Imperii sollte - entgegen der bisherigen Regelung, das Herrschaftsgebiet unter allen Söhnen gleichmäßig aufzuteilen - das Reich als Einheit bestehen bleiben und immer der älteste Sohn die Kaiserkrone erben. Entsprechend ernannte Ludwig seinen ältesten Sohn Lothar I. zum Mitkaiser und setzte seine jüngeren Söhne Pippin und Ludwig den Deutschen als Unterkönige in Aquitanien bzw. Bayern ein.
Doch statt Einheit erreicht Ludwig das Gegenteil - alle driften immer weiter auseinander. Da die beiden Kaiser unterschiedliche Vorstellungen über die Art und Weise hatten, wie das Reich regiert werden soll, gerät die gut gedachte Neuregelung schnell ins Wanken und droht gänzlich zu scheitern, als Ludwig in zweiter Ehe Vater eines weiteren Sohnes wird, denn plötzlich gibt es mit Karl dem Kahlen einen weiteren Bruder mit Erbansprüchen.
Claudius Crönert erzählt sehr anschaulich. Mit viel Liebe zum Detail zeichnet er ein umfassendes, facettenreiches und vor allen Dingen sehr glaubwürdiges Bild der damaligen Zeit und versteht es ausgezeichnet, die historischen Fakten durch abwechslungsreiche Schilderungen und schwungvolle Dialoge mit Leben zu füllen. Schon nach wenigen Seiten hat mich die Welt der Nachkommen Karls des Großen gefangen genommen und ich habe gespannt das Leben, Wirken und Streiten der karolingischen Herrscherfamilie verfolgt.
Historische Gegebenheiten, Politik und Regierungsgeschäfte bilden die Grundlage für diesen Roman, das Hauptaugenmerk liegt aber auf dem turbulenten Miteinander und Gegeneinander von Vater und Söhnen. Ich begegne streitlustigen Charakteren, von denen jeder Einzelne nur daran interessiert ist, seine persönliche Macht auszuweiten und seinen eigenen Besitz zu vergrößern. Wechselnde Perspektiven lassen mich dabei einen Blick auf ihre unterschiedlichen Eigenarten und Beweggründe werfen. Ich lerne die Stärken und Schwächen der Akteure kennen und kann an ihren unterschiedlichen Emotionen teilhaben. Es regieren Neid und Missgunst. Intrigen werden gesponnen, Verschwörungen ausgeheckt, Zwietracht gesät, Rebellionen angezettelt. Ich befinde mich mittendrin in einem frühmittelalterlichen Familienstreit, der sich auf die Zukunft des gesamten fränkischen Reiches auswirken wird.
Besonders gut gefallen hat mir, dass Claudius Crönert nicht nur die großen Herausforderungen der Zeit beleuchtet, sondern auch die vermeintlich kleinen Hindernisse hervorhebt. So erlebe ich zum Beispiel mit, wie schwierig Verhandlungen manchmal waren, weil es keine gemeinsame Sprache gab. Nachrichten brauchten oft mehrere Wochen, so dass der Inhalt der Botschaft bereits überholt sein konnte. Gefechte waren waghalsig, weil man nie genau wusste, wo das gegnerische Heer stand oder wie weit Verbündete vorgerückt waren.
Im Verlauf der Handlung wird immer wieder deutlich, dass die Karolinger nicht nur hochrangige Adelige waren, sondern auch Menschen, die gute und eben auch schlechte Tage hatten. Die falsche Entscheidungen getroffen haben. Die zwischen Größenwahn und Selbstzweifeln schwankten. Die fröhliche Momente erlebten, aber auch dunkle Zeiten und emotionale Krisen bewältigen mussten. Denen Erschöpfung, Schmerz, Trauer, Hunger und Unwetter zusetzten. Die wilde Tiere fürchteten oder mit ihrem Aberglauben zu kämpfen hatten. Es ist die ausgefeilte Mischung aus aristokratischen, menschlichen und alltäglichen Aspekten, die die gesamte Szenerie in diesem Roman so herrlich lebendig und glaubwürdig machen.
„Das Erbe der Karolinger“ hat mir sehr gut gefallen - eine mit vielen historischen Fakten verwobene Geschichte, die anschaulich und lebendig erzählt wird und dabei schnell einen Sog entwickelt, dem man sich als Leser nicht entziehen kann.