Brillante Erzählung deutscher Familiengeschichte
Nun kann der Schauspieler auch noch schreiben! Mir gefiel Christian Berkels Debütroman außerordentlich. Er hat eine wahre, schriftstellerische Begabung!
In „Der Apfelbaum“ beschreibt er ein ganzes Jahrhundert deutscher Geschichte anhand der ungewöhnlichen Liebe seiner Eltern in der Zeit der Nationalsozialisten. Diese aufregende Story der Beiden bildet den Kern des Buches.
Die außergewöhnliche Handlung beginnt in Berlin im Jahre 1932. Sala und Otto verlieben sich Knall auf Fall ineinander bei einer sehr bizarren Situation. Zu dem Zeitpunkt ist sie zarte 13 und er erst 17 Jahre alt. Sie stammen aus vollkommen unterschiedlichen Welten – Otto ist ein typisches Arbeiterkind mit Berliner Schnauze, Sala hat einen intellektuellen, jüdischen Hintergrund.
Christian Berkel gelingt ein tiefes Eintauchen in die Persönlichkeiten, besonders von Sala und Otto. Hier zeigt sich, dass sich der Autor äußerst gründlich mit seiner Familiengeschichte beschäftigt hat. Seine Recherchen müssen außerordentlich zeitaufwendig gewesen sein.
Beide Eltern werden von ihm durchdringend analysiert und mit konkreten, fassbaren, substantiellen Charaktereigenschaften versehen. Seine Mutter Sala und die eigenwillige, distanziert wirkende Großmutter Iza, die Jüdin ist, stellt er als starke Frauen dar. Sala wächst sehr unkonventionell beim Vater auf, da Iza sie beide für einen anderen Mann verläßt. Der Vater, ein feinsinniger gebildeter Mann, sexuell nicht auf ein Geschlecht festgelegt, läßt dem Mädchen viele Freiheiten. Sala leidet unter der scheinbaren Gefühlskälte ihrer Mutter. Sie gibt ihr außerdem u. a. die Schuld an ihrer Orientierungslosigkeit, an ihrer Unwissenheit, was das Judentum betrifft. Sie fühlt sich als Deutsche und muss trotzdem die Repressalien der Nazis erleiden. Durch Umwege über Frankreich, wo sie bei Verwandten lebt, gerät sie doch in die Fänge des Systems. Sie wird in einem Lager in der französichen Ortschaft Gurs (Pyrenäen) interniert, übersteht Hunger, unsägliche unhygienische Zustände und entkommt durch Glück der Deportation nach Auschwitz. Es ist sehr spannend wie sich ihr weiterer Weg gestaltet. Otto hingegen zieht als Sanitätsarzt mit der Wehrmacht in den Krieg, gerät in russische Kriegsgefangenschaft, wo auch er unfaßbare Dinge erleben und überleben muss. Erst 1950 kehrt er zurück ins zerstörte Berlin. Die beiden Liebenden müssen noch manche Hürde überwinden, bis sie sich endlich wieder in die Arme schließen können. -
Über 48 Kapitel wechselt der auktoriale Schreibstil mit Abschnitten, die in der Ich-Form geschrieben wurden. Diese abwechselnde Erzählweise brachte mich anfänglich leicht aus dem Takt des Leseflusses. Das ist meine einzigste, leichte Kritik am Buch. Eventuell wären passende Überschriften hilfreich gewesen, mit dem Wechsel der Zeitebenen besser zurecht zu kommen. Die Ich-Perspektive berichtet aus der Gegenwart und der Autor tritt als Interviewer seiner betagten, leicht vergeßlichen Mutter in Erscheinung.
Mich beeindruckte sehr die gewandte, detaillierte, wohlformulierte Sprache des Autors, die mich vergessen ließ, dass dies sein erster Roman ist. Dialoge entwickelten oft eine eigene Dynamik und wirkten nicht erdacht. Die autobiografischen Elemente wurden geschickt mit fiktionalen Handlungsebenen verwoben. Spannungsreich und sehr souverän erzählt er die Geschichte seiner Familie über drei Generationen von Ascona (Künstlerkolonie), Berlin, Paris, Lager in Gurs, Leipzig, Rußland bis nach Argentinien. Gerne würde ich noch ein Buch über diese Familie lesen. Vielleicht ein weiterer Roman, in dem Christian Berkels Großeltern die Hauptrollen einnehmen? Beide, der Großvater Johannes Nohl und die Großmutter Iza-Gustava Gabriele Prussak, lebten ein sehr ungewöhnliches Leben.
Chapeau, Christian Berkel! Ich empfehle dieses Buch sehr gern mit der Höchstbewertung!