Vincinette
Als am Morgen des 16. Februars 1962 an der Nordseeküste vor dem heranrauschenden Orkan „Vincinette“ gewarnt wird, ahnt in Hamburg noch niemand, welche Tragödie auf die Stadt zurollt. Während man an der Küste Vorkehrungen gegen die drohende Sturmflut trifft und auch in Hamburg erste Warnungen rausgehen, geben sich die Hanseaten sorglos und bleiben erstaunlich gelassen, denn „…Sturm gibt es in Hamburg ständig. Das muss man nicht so ernst nehmen…“ (S. 96). Doch „Vincinette“ ist anders. Mächtiger. Das Sturmtief drückt riesige Wassermassen in die Elbe - die nach dem Krieg nur nachlässig geflickten Deiche halten dieser Wucht nicht stand, mehrere Stadteile Hamburgs werden in kürzester Zeit überflutet.
In ihrem Roman „Als der Sturm kam“ schildert Anja Marschall facettenreich und greifbar, was die Hanseaten in den verhängnisvollen Stunden des 16. und 17. Februars 1962 durchstehen mussten. Ich hatte beim Lesen immer wieder eine Gänsehaut. Klar, als gebürtige Norddeutsche kenne ich die Fakten dieser verheerenden Flutkatastrophe aus unterschiedlichen Berichten und habe auch zahlreiche Fotos gesehen. Doch bloße Fakten und einzelne Bilder lassen mich nur wenig nachempfinden, was die Menschen damals wirklich durchgemacht haben. Anja Marschall hat aus den nüchternen Zahlen der furchtbaren Sturmflut und den wahren Geschichten, die dahinterstecken, etwas gemacht, dass im Gedächtnis bleibt. Sie hat einen Roman geschrieben, der nachhaltig an die tragischen Ereignisse und die vielen traurigen Schicksale erinnert.
Anja Marschall beleuchtet die Katastrophe aus unterschiedlichen Blickwinkeln, so dass ich mir ein umfassendes Bild davon machen konnte, wie es Opfern und Rettern damals ergangen ist. Auch wenn - abgesehen von wenigen realen Persönlichkeiten - die handelnden Personen in diesem Roman fiktiv sind, haben mich sowohl die herben Schicksalsschläge der einen wie auch die enorme Hilfsbereitschaft der anderen tief berührt. Die Autorin hat mich die dramatischen Tage rund um die Flutkatastrophe sehr intensiv miterleben lassen. Ich hatte vor Augen, wie die Deiche brechen; wie sich die gurgelnden Fluten einen Weg durch die Straßen Hamburgs bahnen und dabei eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Ich habe mit den verängstigten Bewohnern einer Gartenkolonie in Wilhelmsburg auf den Dächern ihrer Lauben in Dunkelheit und Kälte ausgeharrt, während der Sturm unablässig über sie hinwegfegt und das rauschende Wasser immer höher steigt. Ich habe gemeinsam mit der Schreibkraft Marion Klinger im Polizeihaus die Verantwortlichen bei der Koordination der Hilfseinsätze unterstützt, mit ihr gegen die bleierne Müdigkeit angekämpft und die Sorge um ihre bettlägerige Mutter in der Kolonie geteilt. Ich habe mit Hubschrauberpilot Georg Hagemann in seiner Bristol Sycamore gesessen und ihn bei seinen waghalsigen Rettungseinsätzen angespornt. Ich war dabei, als Dieter Krämer mit seiner THW-Gruppe unzählige Sandsäcke befüllt hat und habe seine Verzweiflung gespürt, als seine Frau und seine Kinder nicht auffindbar sind. Ich habe Polizeioberrat Martin Leddin und Polizeisenator Helmut Schmidt über die Schultern geschaut, als sie sich ohne zu zögern über Regeln und Gesetze hinwegsetzen, um das Leben der Menschen in ihrer Stadt zu retten. Ich habe mit allen Betroffenen, Einsatzkräften und zivilen Helfern gebangt, gehofft und gelitten. Und ich habe mich mit ihnen gefreut, wenn jemand aus den Fluten gerettet werden konnte oder wenn diejenigen, die durch das Chaos getrennt wurden, sich wiedergefunden haben.
Besonders gut gefallen hat mir, dass es in diesem Buch nicht ausschließlich um die dramatischen Ereignisse während der Katastrophe geht, sondern ich auch einen vielfältigen Einblick in die Lebensumstände der einzelnen Akteure bekommen habe. Jeder von ihnen hat eine persönliche Geschichte - ich lerne im Verlauf der Handlung ihre aktuelle Lebenssituation und ihren ganz normalen Alltag kennen. Ich erfahre, welche beruflichen und privaten Ziele sie haben, was sie sich wünschen, wovon sie träumen. Und auch ihre zwischenmenschlichen Beziehungen erlebe ich mit.
Neben der genauso emotionalen wie fesselnden Handlung haben mich auch das Lokal- und Zeitkolorit begeistert - die norddeutsche Lebensart in den 1960er Jahren wird von Anja Marschall echt und glaubwürdig dargestellt.
„Als der Sturm kam“ hat mich von der ersten bis zur letzten Seite fest im Griff gehabt. Die Mischung aus historischen Fakten und einer fesselnden fiktiven Handlung wird mitreißend erzählt und hat mir nicht nur spannende Lesestunden beschert, sondern mich auch realitätsnah an einem Stückchen Hamburger Stadtgeschichte teilhaben lassen. Ein Lesehighlight!