Ein besonderer Mann in einer besonderen Zeit
Die Originalausgabe von Das Haus in der Half Moon Street ist bereits 2018 erschienen und inzwischen gibt es schon drei Bücher der Reihe rund um Leo Stanhope. Ich hatte bei dem Cover und der Kurzbeschreibung eine etwas andere Geschichte erwartet, wurde aber positiv von Leo und den Ermittlungen rund um den Mord an seiner Geliebten Maria überrascht.
Leo arbeitet als Assistenz eines Gerichtsmediziners und zwei Leichen, um die er sich kümmern muss, bewegen ihn dazu, selbst Ermittlungen anzustellen. Die eine ist ein angeblich Ertrunkener, der im Besitz einer Flasche mit der Gravierung „Mercy“ ist und die zweite seine Geliebte Maria, die sich eigentlich mit ihm treffen wollte, dann aber zu diesem Treffen nie aufgetaucht ist. Er gerät selbst in Verdacht, was ihn nur noch mehr bestärkt, weitere Nachforschungen anzustellen, auch wenn dies bedeuten könnte, dass das Geheimnis, das er seit seinem 15. Lebensjahr mit sich herumträgt, aufgedeckt werden könnte.
Bis dahin hört es sich nach einem normalen Fall an, der im viktorianischen England, in London 1880 spielt. Aber einen Großteil des Buches geht es nicht um die Ermittlungen, sondern um Leo selbst. Man bekommt dank der Ich-Perspektive einen sehr guten Eindruck in Leos Seele und Verhalten, die Handlungsorte und Situationen werden sehr atmosphärisch beschrieben und man kann sehr gut am eigenen Leib miterleben, was Leo bewegt und was er alles durchleben muss.
Das ungekürzte Hörbuch wird hervorragend von Viola Müller gelesen. Ihre Stimme passt perfekt zum Hauptcharakter und macht die Handlung noch greifbarer. Gleichzeitig gelingt es ihr auch auf den Punkt den anderen Charakteren ihr eigenes Profil zu geben und es macht einfach Spaß sich die Handlung von ihr vorlesen zu lassen.
Kommen wir dazu, was Leo so besonders macht. Und dafür muss ich ein bisschen spoilern, wer sich also die Überraschung bewahren will, sollte nicht weiterlesen und mir einfach so glauben, dass es sich lohnt, dem Haus in der Half Moon Street einen Besuch abzustatten.
Leo war bis zu seinem 15. Lebensjahr noch kein Mann. Er ist als Pfarrerstochter aufgewachsen, und musste für sich erkennen, dass er im falschen Körper lebt und legte seine alte Identität ab. Seine Familie konnte dies nicht verstehen und brach größtenteils den Kontakt ab und er musste sich alleine mit seinem neuen Ich durchschlagen, immer in Gefahr, dass ihn sein Körper verrät. Diesem Aspekt wird vom Autor sehr viel Raum eingeräumt und man durchlebt glaubhaft und fesselnd, wie Leo sich den täglichen Herausforderungen einer Zeit stellt, in der Transgender in der Gesellschaft nicht existierten. Zum Glück gab es auch damals schon Menschen, die damit umgehen konnten, auch wenn sie sehr rar gesät waren.
Damit ist Alex Reeve ein ganz besonderer Charakter gelungen und ich bin darauf gespannt, wie es in den Folgebänden weitergehen wird, da man eigentlich meint, alles über Leo erfahren zu haben. Vielleicht wird den Fällen nun mehr Raum eingeräumt, die vielleicht nicht ganz so persönlich für den angehenden Ermittler sind.
Mir hat der historische Krimi sehr gut gefallen, ich wurde überrascht, von der Hauptfigur gefesselt und habe die Achterbahnfahrt durch Leos Gefühls- und Leidenswelt voller Faszination überstanden. Das Buch hat mich nicht nur wegen des spannenden Kriminalfalls, der mit sehr vielen Überraschungen gespickt ist, überzeugt, sondern gleichermaßen wegen des sehr modernen Hauptcharakters, der sich in einer Zeit befindet, in der er nur in Schwierigkeiten geraten kann. Für Fans des Genres und jeden, der mehr über die Identität eines Trans Mannes erfahren möchte.