Angenehme Leseüberraschung
Die Hartz-IV-Empfängerin Sophie wird von ihrer Familie liebevoll Fräulein Münchhausen genannt, denn bisher hat sie sich meist durch Flunkereien und kleinen Lügen vielen Problemen des Lebens entzogen und die Wirklichkeit dadurch ein wenig verbogen oder gar spannender dargestellt als sie oft war. Nach Beendigung ihrer eher halbherzig gemachten Ausbildung zur Fotografin hat sie bisher weder ihren Berufsweg noch Lebenspartner gefunden und lebt mit zwei älteren Damen in einer WG.
Als ihr Bruder, Pfarrer von Beruf, heiratet, ändert sich ihr Leben – und auch das der ihr nahestehenden Menschen, drastisch.
Um ihre Eltern auf der Hochzeit ihres erfolgreichen Bruders, in dessen Schatten stehend sie sich bisher immer fühlte, zu beeindrucken, verkleidet sie sich als mondäne, erfolgreiche Geschäftsfrau mit allen ihrer Freundin Özge notwendig erscheinenden, etwas übertriebenen Accessoires wie Designer-Handtasche und Ferrari-Schlüsselanhänger.
Ausgerechnet da lernt sie Tom kennen. Er ist ebenfalls arbeitslos und hält sich derzeit mit kellnern über Wasser. Allerdings ist er im Prinzip auf den ersten Blick ihr genaues Gegenteil, denn er liebt die Wahrheit und Ehrlichkeit über alles. Dazu hat er auch allen Grund, denn er ist durch die Lügen und Betrügereien von anderen arbeitslos und durch mehrere schlechte Erfahrungen in dieser Hinsicht sehr verletzlich geworden.
Ob die beiden trotz dieser erheblicher Startschwierigkeiten für eine solide Beziehung letztendlich zusammenkommen und wie Sophie durch Tom (und er durch sie) endlich die Kurve in ein geregeltes Leben bekommt, in dem es nicht mehr nötig sein wird, sich und andere zu belügen, ist aber nur ein Teil dieser sehr kompakten, vielschichtigen Story, die die Autorin Silke Schütze ihren Lesern da schenkt und in der es von Anfang bis Ende sehr nachvollziehbar menschelt.
Für mich eines der Lese-Highlights meines derzeitigen Buchbestandes, welches ich sehr gerne anderen ans Herz legen möchte. Jeder von Silke Schützes Protagonisten, auch die Nebendarsteller, sind mit großer Liebe zum Detail gezeichnet und bekommen ihre ganz eigene wichtige Unterstory, so dass durch das Zusammenspiel aller Teilgeschichten die Hauptgeschichte erst so richtig rund und stimmig wird.
Der Bruder von Sophie, der auch als Seelsorger nicht vor eigenem Seelenschmerz gefeit ist, die Arbeitsvermittlerin Frau Klix, die trotz äußerlich gezeigter Strenge ein sehr mitfühlendes menschliches Wesen hat, die älteren WG-Mitglieder, die zwar körperlich nicht mehr die Jüngsten sind, deren Intelligenz, Erfahrungsschatz und Charakter man aber nicht unterschätzen sollte…etc. etc. Wer in dem Buch nur eine oberflächliche Love-Story vermutet, wird genau wie ich, angenehm enttäuscht werden. Ich war jedenfalls oft überrascht von einer unerwarteten Wendung oder hab oft zustimmend genickt und von Anfang bis Ende mitgefiebert und mitgelitten. Und wenn das ein Autor schafft, hat er meiner Meinung nach genau das erreicht, weswegen er ein Buch geschrieben hat.
Kurzum…ein Roman, der sich unbedingt zu lesen lohnt, ist es doch eine sehr warmherzige, gut miterlebbare, zeitgenössische und doch zeitlose Geschichte, der man obendrein noch anmerkt, wie sehr die Hamburger Autorin die Menschen an sich und die Stadt Hamburg im Besonderen schätzt.