Ferdinand von Schirach: Schuld
Schuld
Buch
- Stories
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- Piper, 02/2012
- Einband: Kartoniert / Broschiert
- ISBN-13: 9783492273770
- Umfang: 199 Seiten
- Copyright-Jahr: 2012
- Gewicht: 200 g
- Maße: 190 x 121 mm
- Stärke: 18 mm
- Erscheinungstermin: 1.3.2012
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Klappentext
Eine junge Frau wird jahrelang von ihrem Ehemann brutal misshandelt - bis er eines Tages erschlagen wird. Ein Internatsschüler wird im Namen der Illuminaten fast zu Tode gefoltert. Das Spiel eines Pärchens gerät außer Kontrolle. Doch wie kam es dazu? Nach seinem Erfolgsdebüt »Verbrechen« legt Ferdinand von Schirach einen neuen Erzählband vor, der 15 literarisch aufbereitete Gerichtsfälle versammelt. Leise, aber sehr bestimmt stellt der Berliner Strafverteidiger die Frage nach Schuld und Unschuld, nach Gut und Böse.Auszüge aus dem Buch
VolksfestDer erste August war selbst für diese Jahreszeit
zu heiß. Die Kleinstadt feierte ihr sechshundertjähriges
Bestehen, es roch nach gebrannten Mandeln
und Zuckerwatte, und der Bratdunst von
fettigem Fleisch setzte sich in den Haaren fest. Es
gab alle Stände, die es immer auf Jahrmärkten
gibt: Es war ein Karussell aufgestellt worden, man
konnte Autoscooter fahren und mit Luftgewehren
schießen. Die Älteren sprachen von "Kaiserwetter
" und "Hundstagen", sie trugen helle Hosen
und offene Hemden.
Es waren ordentliche Männer mit ordentlichen
Berufen: Versicherungsvertreter, Autohausbesitzer,
Handwerker. Es gab nichts an ihnen auszusetzen.
setzen. Fast alle waren verheiratet, sie hatten Kinder,
bezahlten ihre Steuern und Kredite und sahen
abends die Tagesschau. Es waren ganz normale
Männer, und niemand hätte geglaubt, dass
so etwas passieren würde.
Sie spielten in einer Blaskapelle. Nichts Aufregendes,
keine großen Sachen, Weinkönigin, Schützenverein,
Feuerwehr. Einmal waren sie beim
Bundespräsidenten gewesen, sie hatten im Garten
gespielt, danach hatte es kaltes Bier undWürstchen gegeben. Das Foto hing jetzt im Vereinshaus,
das Staatsoberhaupt selbst war nicht zu
sehen, aber jemand hatte den Zeitungsartikel danebengeklebt,
der alles bewies.
Sie saßen auf der Bühne mit ihren Perücken und
angeklebten Bärten. Ihre Frauen hatten sie mit
weißem Puder und Rouge geschminkt. Es sollte
heute würdevoll aussehen, "zur Ehre der Stadt",
hatte der Bürgermeister gesagt. Aber es sah nicht
würdevoll aus. Sie schwitzten vor dem schwarzen
Vorhang und hatten zu viel getrunken. Die
Hemden klebten ihnen am Körper, es roch nach
Schweiß und Alkohol, leere Gläser standen zwischen
ihren Füßen. Sie spielten trotzdem. Und
wenn sie falsch spielten, machte das nichts, weil
das Publikum auch zu viel getrunken hatte. Zwischen
den Stücken gab es Applaus und frisches
Bier. Wenn sie Pause machten, legte ein Radiomoderator
Platten auf. Die Holzbretter vor der
Bühne staubten, weil die Menschen trotz der
Hitze tanzten. Die Musiker gingen dann hinter
den Vorhang, um zu trinken.
Das Mädchen war siebzehn und musste sich noch
zu Hause abmelden, wenn sie bei ihrem Freund
übernachten wollte. In einem Jahr Abitur, dann
Medizin in Berlin oder München, sie freute sich
darauf. Sie war hübsch, ein offenes Gesicht mit
blauen Augen, man sah sie gerne an, und sie
lachte, während sie kellnerte. Das Trinkgeld war
gut, in den großen Ferien wollte sie mit ihrem
Freund durch Europa fahren.
Es war so heiß, dass sie nur ein weißes T-Shirt
zur Jeans trug und eine Sonnenbrille und ein
grünes Band, das ihre Haare zurückhielt. Einer
der Musiker kam vor den Vorhang, er winkte ihr
zu und zeigte auf das Glas in seiner Hand. Sie
ging über die Tanzfläche und stieg die vier Stufen
zur Bühne hoch, sie balancierte das Tablett,
das eigentlich zu schwer für ihre schmalen Hände
war. Sie fand, dass der Mann lustig aussah mit
seiner Perücke und seinen weißen Wangen. Dass
er gelächelt hatte, daran erinnerte sie sich, dass
er gelächelt hatte und dass seine Zähne gelb
schienen, weil sein Gesicht weiß war. Er schob
den Vorhang zur Seite und ließ sie zu den anderen
Männern, die auf zwei Bierbänken saßen
und Durst hatten. Für einen Moment leuchtete
ihr weißes T-Shirt eigenartig hell in der Sonne,
ihr Freund hatte es immer gemocht, wenn sie es
trug. Dann glitt sie aus. Sie fiel nach hinten, es tat
nicht weh, aber das Bier ergoss sich über sie. Das
T-Shirt wurde durchsichtig, sie trug keinen BH.
Weil es ihr peinlich war, lachte sie, und dann sah
sie die Männern an, die plötzlich stumm wurden
und sie anstarrten. Der Erste streckte die Hand
nach ihr aus, und alles begann. Der Vorhang war
wieder geschlossen, die Lautsprecher brüllten einen
Michael-Jackson-Song, und der Rhythmus
auf der Tanzfläche wurde zum Rhythmus der
Männer, und später würde niemand etwas erklär
Biografie
Ferdinand von Schirach, geboren 1964 in München, arbeitet seit 1994 als Anwalt und Strafverteidiger in Berlin. Zu seinen Mandanten gehörten das frühere Politbüro-Mitglied Günter Schabowski, der ehemalige BND-Spion Norbert Juretzko, Industrielle, Prominente und Angehörige der Unterwelt.Anmerkungen:
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