Für mich die Entdeckung des Jahres
Das Buch "Unbewohntes Paradies" von Ana María Matute, das ich vom Verlag Hoffmann und Campe freundlicherweise zum Rezensieren übersandt bekam und bei dem ich mich hiermit auf das Herzlichste dafür bedanke, zählt für mich eindeutig zu den wichtigsten, berührendsten und warmherzigsten Romanen, die ich je gelesen habe.
Das Buchcover zeigt den Hinterkopf eines kleinen, zierlichen Mädchens mit Zöpfen und viel zu großen roten Schleifen im Haar. Dieses Bild ist gut gewählt, denn in Adrianas Welt im Madrid der dreißiger Jahre ist irgendwie alles zu groß für sie, selbst ihr Name.
Daher wird dieses kleine, elfengleiche Geschöpf auch von allen Adri genannt. Ihre Mutter, die nicht dazu steht, dass ihre Liebe zu ihrem Mann längst erkaltet ist und sich als Ersatz den Gepflogenheiten der besseren, katholischen Gesellschaft Spaniens unterwirft, weiß nichts mit der Kleinen anzufangen und so wächst Adri in der Küche und den Wirtschaftsräumen des Hauses bei der Wirtschafterin Tata María und dem Hausmädchen Isabel auf, wo sie sich allerdings den größten Teil ihrer frühen Kindheit meist unter dem Tisch am liebsten unsichtbar für alle macht. Des Nachts, wenn alles schläft, wandert sie durch den dunklen Korridor, der in ihrer Vorstellung zu einem gefahrvollem Strom wird, worauf sie Abenteuer erlebt, in den großen Salon, wo sie beobachtet, wie ein Einhorn aus einem Gemälde flieht und wieder zurückkehrt, beobachtet den Lampenanzünder, die Lieferanten und Chauffeur und schafft sich immer mehr ihre eigene Traumwelt. Wie ihre Tante Eduarda feststellt, lebt sie in ihrer eigenen kleinen Welt als Gnom und spricht ihre eigene Sprache.
In der Mädchenschule, in die man sie ab einem bestimmten Alter steckt, muss sie recht schnell die Erfahrung machen, dass Intelligenz und Fantasie, Hinterfragen von Dogmen und Anzweifeln der starren Lehrmethodik nicht erwünscht ist. Sie gilt bald als widerborstiges, böses Kind und zieht sich immer mehr in sich selbst zurück. Vorsichtige, sehr zurückhaltend gezeigte Wärme und Zuneigung erhält sie nur vom Personal und als ihr Vater mit ihr einen ganzen Tag verbringt, wird klar, dass auch er unfähig ist, ihr echte Zuwendung zu geben. Außer durch fast verstohlenem Händedrücken kommuniziert er so gut wie gar nicht mit ihr, nimmt sie aber mit ins Kino zu einem Abenteuerfilm. Adriana ist völlig überwältigt, geht komplett mit den Geschehnissen im Film mit und wird prompt krank. Der einzige Mensch, der erkennt, dass das Mädchen ausgehungert nach echter Wärme und liebevoller Zuwendung ist, ist der Arzt der Familie.
Doch Adrianas Leben ändert sich erst, als im Nachbarhaus eine Russin mit ihrem Sohn Gavrila und dessen fürsorglicher Hausverwalter Theo einzieht. Gavrila ist genau so einsam wie sie, denn seine Mutter ist eine berühmte Ballerina und hat ebenfalls keine Zeit für ihr Kind.
Zunächst heimlich und mit der Zeit immer mehr mit dem Wissen und der Befürwortung des Personals, die beide Kinder bedauern, freunden sich Adriana und Gavrila nicht nur auf bezaubernde Weise an, sondern es wächst echte Liebe zwischen ihnen, die beide stärkt und erfüllt.
Doch ihre kleine, heile Welt ist allerorts gefährdet. Das Erwachsenwerden, der stärker werdende Versuch des Proletariats, die Macht zu ergreifen und den Kapitalismus zu stürzen, Brutalität, Ignoranz und Neid anderer Menschen und Krankheiten bedrohen das Glück der Kinder.
So wundervoll poetisch zeichnet die Autorin ihre Protagonisten, dass man als Leser versucht ist, die eigene Hand schützend um die Kinder zu legen, um sie vor dem Unvermeitlichen zu schützen und abzuschirmen, wohl wissend, dass das leider nicht auf Dauer geht.
Aber die unvergleichliche Schreibweise von Ana María Matute, die den Leser durch das Miterleben der ungewöhnlichen, herzerwärmenden Freundschaft der beiden Kinder in die traumhafte Kinderzeit zurückversetzt, in der alles möglich schien, tröstet den Leser doch über den tragischen Schluß hinweg und man kann gut nachvollziehen, dass diese Autorin zu den ganz großen und bedeutenden Schriftstellern Spaniens zählt.