Wer braucht schon Kategorisierungen? Valerie June pulverisiert jeden Versuch, ihre Musik in Schubladen einzuordnen.
Es gibt sie immer wieder, diese beglückenden Momente, in denen Talente aufgrund ihrer den Raum einnehmenden Präsenz, ihrer zärtlichen oder bestimmenden Wucht und ihrem Einfallsreichtum verblüffen. Dazu gehört auch die 1982 in Jackson, Tennessee, geborene Künstlerin Valerie June Hockett, die schon über zwei Jahrzehnte lang professionell Musik macht und mit "Owls, Omens, And Oracles" am 11. April 2025 ihr sechstes Album unter eigenem Namen herausbringt.
Nichts im Leben kann den Lerneffekt durch Erfahrungen ersetzen. Ob diese jetzt im Privaten durch unterschiedliche Wechselfälle im familiären Umfeld entstehen oder im Beruf durch die Bereicherung, die von vielen Kontakten ausgeht. Beide dynamische Situationen formen Einstellungen und Erkenntnisse maßgeblich. Im Privatleben hat Valerie June massive Veränderungen durchgemacht. Sie konnte zeitweise ein gutbürgerliches Leben genießen, musste aber auch Armut durch Unglück (Verlust des Eigenheimes in Tennessee durch einen Brand) und gesellschaftlichen Abstieg (Insolvenz der Firma des Vaters) erleiden. Diese Katastrophen haben ihr Weltbild geprägt und sie demütig und kämpferisch zugleich werden lassen.
Hinsichtlich ihres künstlerischen Aufstiegs hatte sie mehr Glück: nachdem sie im Jahr 2009 an der MTV-Serie "$5 Cover" teilnahm und überzeugte, ging es konstant aufwärts. 2013 kam dann mit dem von Dan Auerbach (The Black Keys) produzierten Erstlingswerk "Pushin` Against A Stone" der Durchbruch beim Publikum und der Kritik.
Valerie June ist eine von einem untrüglichen Instinkt geleitete Künstlerin. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich auch "Joy, Joy!" aufgrund von unkonventionellen Ideen nicht eindeutig stilistisch zuordnen lässt: Die Stimme hat Soul-Power, aber sie geht nicht an ihre Grenzen, wodurch die Gesangslinien elegant, wendig und listig bleiben. Das Arrangement transportiert Hip-Hop-Beats und enthält auch ein E-Gitarren-Rock-Solo. Das Schlagzeug steuert leichte Jazz-Vibes genauso wie schäumende Becken-Attacken bei. Der Bass ist wuchtig und die Bläser erzeugen saftige Einschübe. Als geschmackvolles Füllmaterial werden noch schwirrende Streicher eingestreut, was für eine schwül-erregende Stimmung sorgt. Selbstredend groovt dieses Konstrukt gekonnt, sodass "Joy, Joy!" ein perfekter Appetitanreger für die "Owls, Omens, And Oracles"-Platte darstellt.
Mit "All I Really Wanna Do" wendet sich Valerie der konventionellen Soul-Ballade zu, die an den wuchtig-üppigen und federnd inszenierten Wall-Of-Sound angelehnt wurde, den es bei Phil-Spektor-Produktionen zu hören gab (z.B. The Ronettes - Be My Baby oder Ike & Tina Turner - River Deep, Mountain High).
Pop als Stimmungsaufheller: "Endless Tree" hat die Formel gelöst, wie man Noten in Glückshormone umwandelt. Der Song nimmt zwischen den bedächtig tänzelnden Phasen mächtig Fahrt auf und verwandelt sich dann in einen vor Lebenslust sprudelnden Power-Pop.
"Inside Me" besitzt eine ähnlich positive Ausstrahlung und punktet zusätzlich durch seine erwachsene Coolness. Dennoch weist der Titel einen lockenden, liebenswerten Groove aus.
"Trust The Path" ist eine im Grunde genommen seriös-ernsthaft eingespielte Piano-Ballade, die allerdings durch gewöhnungsbedürftigen Gesang, der betont naiv, unbedarft und leicht quäkig-schräg gehalten wurde, aus dem Rahmen fällt.
Das Rezept, keine erwartbare Einheitskost zu bieten, geht auch bei "Love Me Any Ole Way" auf. Der Song speist sich zwar aus Elementen des frühen Rock & Roll, Rhythm & Blues und New Orleans-Jazz, wie ihn zum Beispiel Fats Domino gespielt hat, diese traditionellen Spielarten erhalten jedoch interpretatorische Haken und Ösen, die sie vor einem drögen Nostalgie-Verdacht schützen.
Für "Changed" stehen The Blind Boys Of Alabama als Gesangsunterstützung zur Verfügung. Warum die alten, stimmgewaltigen Männer allerdings so sehr in den Hintergrund gemischt wurden, dass sie kaum noch wahrnehmbar sind, bleibt ein Rätsel. Sie hätten dem Lied einen tief empfundenen, seelenvollen Gospel-Sound vermitteln können, der ihn noch weiter herausgehoben hätte.
Mit "Superpower" realisiert June genau das, was man bei "Changed" gehofft hat zu hören: einen geheimnisvollen, auf seine Art spirituellen, ehrfürchtig-kraftvollen Klang. Mit unter zweieinhalb Minuten ist dieser Trip-Hop-Deep-Soul-Verschnitt allerdings viel zu kurz, um sich erleuchtend entfalten zu können.
"Sweet Things Just for You" hört sich an, als wäre die Grundidee aus frühen Jazz-Gesängen, wie dem Doo-Wop, abgeleitet und in einen Folk-Song übergeleitet worden. Die Mitwirkung von Norah Jones wird dabei nicht prominent herausgestellt. Sie ist Teil des Duett-Gesanges, aber nicht hervorstechend identifizierbar.
Valerie June ist bemüht, das Liebeslied "I Am In Love" nicht zu sentimental klingen zu lassen. Dazu ist ihr Gesang zu sehr verwinkelt und sie knurrt, schnarrt und bricht melodisch aus. Aber diese Extravaganzen werden nicht übertrieben und die erotischen Schwingungen des Stückes werden deshalb nicht zerstört. Die Musikerin hat dieses Lied schon 2014 geschrieben, aber bisher nicht aufgenommen. Es musste erst reifen, damit es die Ausprägung bekommen konnte, die es verdient und benötigt. Das zeigt, wie sorgsam die Singer-Songwriterin mit ihren Schöpfungen umgeht und wie wichtig es ihr ist, dass sie optimal zur Geltung gelangen.
Für das kurze A cappella-Stück "Calling My Spirit" singt Valerie mit sich selber als Chor und im Kanon. Sie erzeugt dabei eine verzückt-geistliche Stimmung, wie sie in ähnlicher Form im Film "O Brother, Where Art Thou" wahrzunehmen war.
"My Life Is A Country Song" ist tatsächlich formal ein Country-Song, aber nicht im herkömmlichen Sinne. Dazu gibt es hier zu viele Effekte und Spielweisen, die den Traditionalisten ein Dorn im Auge wären.
"Missin’ You (Yeah, Yeah)" fällt völlig aus dem Rahmen. Es gibt dezente Folk-Blues- und Swamp-Rock-Zitate zu hören. Dazu selbstbewussten Jazz-Gesang und eine Melodie, die aus dem Nichts auftaucht und unvermittelt dahin zurückkehrt, was letztlich einen unvollendeten Eindruck hinterlässt.
Der Abschluss-Track "Love And Let Go" gehört zu den schönsten und raffiniertesten Aufnahmen des aktuellen Werkes. Valerie June hatte ihn zu Beginn ihrer musikalischen Laufbahn schon einmal aufgenommen, aber nun hatte sie eine Vision davon, wie er wirklich klingen sollte. Er bildet quasi eine Klammer zu dem bisher Gehörten: Der Gesang rochiert zwischen lieblich-harmonisch und kindlich-nörgelnd, die Melodie ist harmonisch aufgebaut, geht eigene, nicht unbedingt sofort einleuchtende Wege, die Instrumentierung ist raumfüllend, lässt aber Lücken, in denen sich die Musiker durch ihr Feingefühl und ihre Virtuosität auszeichnen können. Und am Ende besteht der Wunsch, sofort auf "Repeat" zu drücken, so einnehmend und interessant ist das Lied.
Wem Etiketten egal sind und wer an abwechslungsreichen Pop-Songs jeglicher Färbung von einer Musikerin interessiert ist, die vorbehaltlos und abenteuerlich ihre Werte einsetzt, für den ist das von M. Ward vollmundig und transparent produzierte "Owls, Omens, And Oracles" genau die richtige Wahl. Das gilt auch für Leute, die Spaß daran haben, Ursprungsforschung in Sachen Songanalyse zu betreiben. Sie werden hier quer durch die Musik-Geschichte fündig werden.
Valerie Junes Lieder haben eine eigentümliche, manchmal verschrobene Ästethik, bei der spezielle Vorstellungen von Schönheit und Energie eine wichtige Rolle spielen. Wenn man die Augen schließt und "Owls, Omens, And Oracles" über Kopfhörer genießt und sich ganz und gar in die Musik vertieft, dann erhält man ein Bild davon, wie viel Herzblut und Kreativität in den Kompositionen steckt. Das Ergebnis des Erlebten erscheint dann größer, als die Summe der verwendeten Teile es vermuten lassen. Das ist die Magie, die in anspruchsvoller, origineller Musik steckt!