Sarah Davachi hat mit "The Head As Form'd In The Crier's Choir" einmal mehr ein schöngeistiges, psychoakustisches Klang-Konzept umgesetzt.
Die Welt besteht aus Schwingungen, die auf uns einwirken. Positiv wie negativ. Die 37-jährige, in Kanada geborene Sarah Davachi beschäftigt sich in ihrer Kunst unter anderem damit, was Töne in uns auslösen können. "The Head As Form'd In The Crier's Choir" orientiert sich an dem antiken, griechischen Orpheus-Mythos und folgt bestimmten Regeln: Die sieben Kompositionen bestehen oft aus langgezogenen Tönen, die sanft, manchmal kaum merklich pulsieren. Es ist, als würden sie atmen, also lebendig sein. Diese alternativ ausgelegte Ambient-, Drone- oder Minimal-Art-Musik folgt keinem Rhythmus, weist keine Melodien auf, besitzt keine Refrains. Sie ist nicht aggressiv oder anbiedernd und setzt sich ausschließlich aus unterschiedlich gestimmten Vibrationen zusammen.
"Prologo", "The Crier`s Choir" und "Night Horns" sind Solo-Stücke, eingespielt an Pfeifen-Orgeln in Helsinki (Finnland), Oberlin (USA) und Toulouse (Frankreich). Wer jemals eine mächtige Orgel gehört hat (in einer Kirche oder Kathedrale oder auf CD zum Beispiel bei "Hymns/Spheres", das von Keith Jarrett 1976 eingespielt wurde), weiß, wie durchdringend und Respekt einflößend solche Klänge sind. Für ihre Orgel-Tracks entwickelte Sarah Davachi ruhige Abläufe, die sich nur geringfügig und langsam verändern. Die Akkorde sind überwiegend dem Moll-Bereich zugeordnet, hören sich andächtig an, sind meditativ aufgebaut und werden ohne Zeitdruck dargeboten. Manchmal überlagern sich diese Entwürfe auch.
Für "Possente Spirto" setzte Sarah elektronische Instrumente, wie Mellotron (mit Blech- und Holzbläser-Samples) oder Synthesizer sowie Bandschleifen-Manipulationen ein. Sie wird dabei von Andrew McIntosh an der Bratsche und Mattie Barbier an der Posaune begleitet. Im Verbund erzeugen die Musiker ein Wummern, Brummen, Schwirren und Summen, das sich für den Ungeübten, mit minimalistischen Ausdrucksweisen nicht Vertrauten eventuell wie Hörtest-Geräusche anhört, aber in einer ausgeruhten Stimmung Hirn-Areale stimuliert, die die Aufmerksamkeit und das Urteilsvermögen anregen.
Das "Trio For A Ground" besteht eigentlich aus einem Quartett, nämlich aus Sarah Davachi (Pfeifen-Orgel in Bologna (Italien)), Eyvind Kang (Bratsche), Pierre-Yves Martel (Bratsche) und Lisa McGee (Gesang). Vier Menschen - drei unterschiedliche Schwingungs-Erzeuger: Davachi steuert erdende Dauer-Töne bei, die Bratschen passen sich diesem monoton-suggestiven Treiben an und mithilfe von Lisa McGee wurde ein ganzer Chor simuliert, der an sphärische, gregorianische Gesänge erinnert, wie sie gerne in Mittelalter-Filmen wie "Der Name der Rose" zur Erzeugung von sakralen Momenten verwendet werden. Entsprechend ehrwürdig-religiös klingt dann auch diese Komposition.
Für "Res Sub Rosa" konnte das Berliner Bläser-Quintett Harmonic Space Orchestra, bestehend aus Rebecca Lane (Bass-Flöte), Sam Dunscombe & Michiko Ogawa (Bass-Klarinetten) sowie M.O. Abbott & Weston Olencki (Posaunen) gewonnen werden, die dem Stück eine natürlich warme Interpretation zukommen lassen. Ihre Ton-Demonstrationen erinnern an Warn-Hörner, zumindest an um Aufmerksamkeit bittende Klänge, die sich nicht alarmierend, aber auffallend, vorherrschend und bestimmend verhalten.
"Constants" bestreitet Sarah Davachi alleine an elektronischen Instrumenten. Ein paar Frequenzen sind höher gelagert als bei den Orgel-Stücken, ohne dabei aber schrill zu sein. Es gibt sowohl beinahe gleichbleibende als auch sich in diesem grundsätzlich eher statisch orientierten Kontext auffälliger verändernde Töne. Das allgemeine Dröhnen schwillt im Verlauf an, was durch die bisherige Sensibilisierung eine Provokation andeutet. Vor der Eskalation nimmt die Intensität jedoch wieder ab.
"The Head As Form'd In The Crier's Choir" ist keine Pop-Musik im engeren Sinne, hat aber einige Verwandte in diesem Bereich, wie Terry Riley, Brian Eno oder Peter Michael Hamel (von der Gruppe Between), die alle neue Ausdrucksformen gesucht und dafür die Rock & Roll-Roots verlassen haben, um eine andersartige klangliche Revolution einzuleiten.
Die fast 92 Minuten Spielzeit suggerieren den Zuhörern, dass die Zeit zum Stillstand gekommen sei. Es gibt "keine Themen, nur Aktivität von Ton und Stille". Das ist eine Definition, die der Komponist John Cage für sein Orgel-Stück "ORGAN²/ASLSP" gefunden hat, das über 639 Jahre hinweg in der Burchardi-Kirche in Halberstadt aufgeführt wird. In ähnlicher Form gilt diese Aussage als Anhaltspunkt auch für die letzten Werke von Sarah Davachi ("Antiphonals" von 2021 und "Two Sisters" aus 2022), zu denen "The Head As Form'd In The Crier's Choir" eine logische Ergänzung darstellt.
Die Wahrnehmung dieser Klang-Kombinationen kann durchaus bewusstseinserweiternd sein. Der Geist begibt sich dann auf eine Reise, die von den Tönen inspiriert, womöglich bestimmt und geleitet wird. Obwohl dunkle Strukturen vorherrschen, fühlt man sich nicht bedroht, sondern fürsorglich in abenteuerlich-unbekannte Gefilde begleitet. Dabei wird man fachkundig an die Hand genommen, um sich mit der unbekannten Situation zurechtzufinden und zu identifizieren. Vertrauen ist sowieso das Schlüsselwort für den Umgang mit diesen Kompositionen. Man sollte sich also in die Noten fallen lassen, sich vorurteilsfrei auf das Experiment einlassen. Dann hinterlassen die Klanginstallationen unter Umständen eine berauschend-befreiende Wirkung. Besonders intensiv kann das köstliche Hör-Vergnügen natürlich mit einem hochauflösenden Kopfhörer erlebt werden.
Sarah Davachi ist eine Ton-Schöpferin und Sound-Designerin, die es versteht, Klanginstallationen zu erzeugen, die auf das Wesentliche abgespeckt sind. Sie füllen den Raum so weit auf, dass sie einen wohlig empfundenen Schwindel auslösen können, der die Aufnahmefähigkeit des Gehirns jedoch nicht einschränkt. Ganz im Gegenteil, durch die Reduktion auf wenige Schwingungen tritt eine konzentrierte Selbstentspannung ein, ähnlich wie beim autogenen Training. Deshalb kann die Musik auch ein heilsamer Trip mit Erkenntnisgewinn sein. Probieren geht über Studieren...