Starkes zweites Album
Phil Collins' zweites Solowerk HELLO, I MUST BE GOING! kann als Fortführung der fantastischen FACE VALUE verstanden werden. Hier finden sich schlagzeugbetonte und zynische Songs, dunkle Stimmungen, viel Zorn und Schmerz, nach wie vor ist die Scheidung von seiner ersten Ehefrau Thema vieler Songs. Daneben gibt es auch Motown-Einflüsse, tanzbaren Rhythm and Blues und die Bläser, die man auch auf seinem Erstling und dem Nachfolger hört. Einiges deutet bereits auf NO JACKET REQUIRED hin, der Platte, an der sich bis heute einige Geister scheiden. HELLO, I MUST BE GOING! ist weniger kommerziell als das 85er-Alben. Deshalb halten es manche für die letzte gute Scheibe von Phil Collins. Ich halte NO JACKET REQUIRED für eine gute Platte. Und dass sie nach den Achtzigern klingt ist weder ein Problem noch eine Frage der Qualität der Musik. Die ist bei Phil Collins stets hoch. Leider wird Phil Collins meiner Ansicht nach sehr häufig unfair eingeschätzt und behandelt. Ich finde, dass Phil Collins sehr viele unglaublich gute Lieder geschrieben hat, ein prima Sänger ist, ein hervorragender Schlagzeuger war (leider wird er wohl aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme nie mehr richtig Schlagzeug spielen können), und zudem ein total sympathischer, normaler und humorvoller Mensch ist. Diesen Eindruck habe ich u. a. durch seine Auftritte im deutschen Fernsehen gewinnen können. Sein Auftritt im Juni 2017 in Köln wird mir als einer meiner schönsten Konzertbesuche in Erinnerung bleiben.
Vielleicht waren es gerade seine Normalität, zusammen mit seinem großen kommerziellen Erfolg, die dazu führten, dass Phil Collins als eine der größten Witzfiguren der Popgeschichte galt. Gemessen an seinen musikalischen Fähigkeiten und seinen Platten ist dies meiner Ansicht nach vollkommen unverständlich. Man kann manche seiner Songs oder Platten, ähnlich wie bei Paul McCartney, zu seicht oder weichgespült empfinden. Vielleicht war er manchen Leuten auch zu sehr Mister Nice Guy und dann ist er bei LIVE AID auch noch sowohl in London als auch in Philadelphia aufgetreten, vermutlich gab er auf seinem Flug in der Concorde noch zwei Shows etc. Ich halte das alles für großen Quatsch, mit einer fairen Einschätzung der Qualität seiner Musik hat das nichts zu. Abgesehen davon, war es doch eine coole Idee auf beiden LIVE AID_Konzerten aufzutreten.
HELLO, I MUST BE GOING! erschien im November 1982, Jahre bevor der erste Eimer Schmutz über Phil Collins gekippt wurde. Der erste Song I DON'T CARE ANYMORE erinnert von der Stimmung her an IN THE AIR TONIGHT. Immer noch ein starker Track, tolles Schlagzeug, ein Klassiker, auch live ein Erlebnis. I CANNOT BELIEVE IT'S TRUE geht in die Motown-Richtung, das vorwärtstreibende Arrangement kontrastiert mit Collins' nachdenklicher Stimme. Starke Drums und toller Sound. Der Klang der gesamten Scheibe, wie auch bei FACE VALUE gefällt mir sehr. LIKE CHINA klingt nach dem Genesis-Sound der frühen Achtziger, hätte auf ABACAB gepasst. DO YOU KNOW , DO YOU CARE? ist wieder eine düstere Nummer, wirkt sehr eindringlich, sehr guter Song. Eine ähnlich dunkle Stimmung verbreitet THRU THESE WALLS, Akzente setzt Phil Collins mit Drumfills im Stil von Ringo Starr. Als Kontrast dazu erklingt der Supremes-Coversong YOU CAN'T HURRY LOVE, der kommerziellste und kürzeste Beitrag auf der Scheibe. Ein großer Hit und obwohl der Track deutlich anders als der Rest der Platte klingt, passt er als Lied Nr. 5 gut in den Flow. IT DON'T MATTER TO ME ist wieder ein tanzbarer Song mit Bläser-Arrangement. Das Phil Collins in seiner Kindheit und Jugend neben den Beatles vor allem die Motown-Produktionen aus Detroit hörte und diese Musik bis heute liebt, hinterließ hörbare Spuren in seiner Soloarbeit, am signifikantesten auf seiner bisher letzten Platte GOING BACK, ein Album mit lauter Motown-Coversongs. Das zu dieser Stimmung passend jazzig-soulige THE WEST SIDE würde einen prima Filmsong abgeben. Vor dem weitgehend instrumental gehaltenen Song ist DON'T LET HIM STEAL YOUR HEART AWAY platziert, eine schöne Ballade. Eine weitere Ballade, WHY CAN'T IT WAIT 'TIL MORNING beschließt das Album. Ein sehr gelungener Song, mit stimmigen Streichern und zurückhaltenden Bläsern.
HELLO, I MUST BE GOING! ist ein starkes Album, stilistisch ähnelt es FACE VALUE und wer Phil Collins' Scheiben ab 1985 nicht mag, sollte sich zumindest die ersten beiden Soloplatten anhören. Möglicherweise ändert der ein oder andere seine Meinung über Phil Collins und eventuell werden auch seine späteren Werke dann offener angehört. Auf HELLO, I MUST BE GOING! finden sich neben dem Hit YOU CAN'T HURRY LOVE neun weitere starke und gut produzierte Songs.