Der Blues kann sehr unterschiedlich interpretiert, aber dennoch glaubwürdig vermittelt werden, wie Todd Sharpville beweist.
Immer wieder taucht die Frage auf, ob ein weißer Musiker wirklich authentisch den Blues spüren und singen kann oder ob das der afro-amerikanischen Bevölkerung vorbehalten sein sollte, weil es Teil ihrer (Leidens)-Kultur ist. Rein aus künstlerischen Gesichtspunkten kann eindeutig festgestellt werden, dass es etliche "Weißbrote" gibt, bei denen aus jeder Pore und jeder Schwingung der pure Blues glaubwürdig und mitreißend strömt.
Wie zum Beispiel bei den Urgesteinen Long John Baldry, Eric Burdon oder Mitch Ryder, in deren Schatten auch Todd Sharpville als eigenständiger, flexibler Musiker agiert. Sharpville verfügt über eine raspelnd-röhrende Stimme, die auch verführen, umgarnen oder einfach nur für gesteigerte Aufmerksamkeit sorgen kann. Interessant ist seine Musik auch deshalb, weil er nicht einfach den originalen 12-Takt-Sound nachspielt, sondern diesen erheblich moduliert und transformiert. Sein Blues ist selten pur, aber dennoch respektvoll und leidenschaftlich, manchmal leidend, stets empathisch und immer kreativ und unterhaltsam.
Kein Wunder, denn Todd hatte sich schon als Kind zunächst für Buddy Holly, Jerry Lee Lewis sowie Elvis und wenig später für Freddie King begeistert. Seitdem ließ ihn der Blues nicht mehr los. Sein Gitarrenspiel ist entsprechend von vielen seiner Helden beeinflusst, die T Bone Walker, BB King, Buddy Guy, Hubert Sumlin, Eric Clapton, Lightnin` Hopkins, Albert King, Otis Rush, Peter Green oder Magic Sam heißen. In seiner inzwischen 30jährigen Karriere hat der britische Musiker bereits mit Größen wie Gary Brooker (Procol Harum), Bill Wyman (The Rolling Stones), Ian Hunter (Mott The Hoople), Roger Daltrey (The Who), Taj Mahal, Derek Trucks & Susan Tedeschi, Branford Marsalis, Mick Taylor (The Rolling Stones), Joe Cocker und Pink zusammengearbeitet und ist dabei zu einer herausragenden Musikerpersönlichkeit gereift. Sein Erstlingswerk "Touch Of Your Love" erschien bereits 1992 und wurde zum besten Album bei den British Blues Connection Awards ausgezeichnet, als Todd parallel den Preis als bester Gitarrist erhielt.
Sein neuestes Werk "Medication Time", das am 8. Juli 2022 erscheint, taucht in die Vergangenheit des beliebten und vielseitigen Musikers ein. Es rollt eine Phase auf, die mit Schmerzen und Angst verbunden ist, denn vor 16 Jahren gab es nach der Trennung von seiner Frau einen hässlichen Streit um das Sorgerecht für seine Kinder, die bei ihm zu einem Kollaps führte und als Folge daraus einen 2-monatigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik nötig machte. "Bis dahin war ich eher ein Kontrollfreak, und die Erkenntnis, dass Kontrolle nur eine Illusion ist, dämmerte mir erst, als ich mich mit einer reaktiven Depression und selbstmordgefährdet in einer staatlichen Einrichtung untergebracht wiederfand.", erzählt Sharpville über diese Zeit. Mit "Medication Time" wird dieser Tiefpunkt aufgearbeitet und der Weg hinaus in die sogenannte Normalität anhand von neun Eigen- und drei Fremdkompositionen begleitet.
"Walk Out In The Rain" wurde von Bob Dylan (mit)geschrieben, aber nie von ihm veröffentlicht. Es gibt von dem Stück eine schön entspannte Version von Eric Clapton auf "Backless" von 1978, die durch eine gewisse J.J. Cale-Lässigkeit gefallen kann. Todd Sharpville hat diese Haltung schon nach einer Minute abgestreift und gurgelt sich gesanglich in eine streitsuchende Position hinein, lässt zwischendurch wieder locker, wandelt aber insgesamt energisch-zornig durch den von einem kraftvollen Rhythm & Blues-Drang geprägten Song. Das Lied wurde wahrscheinlich stellvertretend für die gescheiterte Beziehung ausgewählt. "Get Outta My Way" wirkt auf spannungsgeladene Weise unruhig. Der Track baut ordentlich Druck auf und fühlt sich dem R&B und Rock & Roll verbunden. Die hungrig aufspielenden Bläser und die ungeduldige E-Gitarre sorgen dabei für instrumentelle Glanzlichter.
Die Ballade "Tangled Up In Thought" bringt zunächst wieder Ruhe ins Klangbild, das von einer leise rauschenden Hammond-B-3 Orgel geprägt wird. Das obligatorische, resolut-entschlossene Gitarren-Solo sorgt dann für etwas Aufregung und Sharpville legt sich gesanglich mächtig ins Zeug. Aber die leidenschaftlichen Gefühle gewinnen letztlich doch nicht die Oberhand. Leider wird das Stück nach fünfeinhalb Minuten immer noch zu früh ausgeblendet, die erwartete absolute Zuspitzung bleibt auch deshalb aus. Der Track beschreibt eine Situation, die durch festgefahrene Gedanken gekennzeichnet ist, welche ein ausgeglichenes Leben verhindern. "Denn der Geist, der wirklich beunruhigt ist, ist der Geist, der nachts zum Leben erwacht", berichtet Sharpville und nennt auch den Grund für die Krise: "Nicht alle Antworten zu kennen füttert nur einen ruhelosen Kopf."
"House Rules" beschreibt anschaulich, wie der Alltag mit seinen ausgesprochenen oder angenommenen Regeln, bei denen sich eventuell die Partner nicht einig sind, eine Beziehung schwer belasten kann. Bei diesem Song schielt manchmal stimmlich kurz der knurrige Don van Vliet (Captain Beefheart) um die Ecke. Er bleibt aber ein Phantom bei dem cool swingenden Boogie-Blues, der die Slow-Dancer auf den Tanzboden lockt. Die Blasinstrumente bilden für den melodischen, elegant-eingängig agierenden Funk-Blues "Brothers From Another Mother" eine kompakte Einheit, deren knackige Fanfaren den Weg für die Sänger und Gitarristen Todd Sharpville und Larry McCrae frei machen, die sich gegenseitig befeuern und gemeinsam den Mond anheulen. Das Lied berichtet über schlechte Zeiten und die Kraft der Freundschaft, die alle Hindernisse überwinden kann.
Amy Winehouse wollte keine Therapie machen ("Rehab") und verlor das Leben. Todd Sharpville hat sich in seiner Not auf fremde Hilfe eingelassen und ein neues Leben gewonnen. Das Titelstück "Medication Time" schildert das Leiden sowie die Hoffnung auf Besserung und ist so ruhig und langsam, dass es in Trauer zu versinken droht. Der Gesang baut über die über acht Minuten Laufzeit hinweg eine gequält-leidende Atmosphäre auf, wobei die E-Gitarre nach etwas über sieben Minuten die Luft mit einem befreiend-schreienden Solo zerreißt. Der attraktiv groovende Blues-Rock "God Loves A Loser" zieht seine Schärfe wiederum aus der treibenden Rhythmus-Arbeit, den drängelnden Gitarren-Spuren und der eruptiv fauchenden Orgel. Zynisch und desillusioniert wird der Zustand eines Menschen geschildert, dem das Schicksal übel mitgespielt hat: "Weißt du, wenn Gott einen Verlierer liebt, bin ich mir verdammt sicher, dass er mich mögen wird", heißt es da. Und: "Hoffnung ist ein Fremder und Angst ist mein bester Freund."
Die originelle Cover-Version von "Money For Nothing" der Dire Straits hat alles, was dem glattpolierten, hochgezüchteten Original fehlt: Biss, Schärfe, Ecken und Kanten sowie Sex-Appeal. Das Original spielte ein Typ in der Psychiatrie rauf und runter, so dass Todd eine Hass-Liebe zu dem Song entwickelte. Nun hat er ihn so verändert, dass er in seine Welt passt und sich wie ein vollständig anderes Lied anhört. Das langsame, psychedelische "Silhouettes" hätte auch hervorragend auf das 1971 erschienene, bizarr-rauschhafte Album "Just For Love" von Quicksilver Messenger Service gepasst. Mit einer ausdrucksstarken Poesie werden zu den grau schimmernden Tönen noch schwermütige Bilder einer gequälten Seele gemalt.
"Stand Your Ground" taucht in eine bedächtig-stimmungsvolle Oldtime-Jazz-Landschaft ein und bewegt sich mild swingend und gefällig vorwärts. Sich nicht von anderen Menschen klein machen zu lassen, ist besonders im Umfeld der sogenannten sozialen Medien schwierig, da dort jeder, der sich äußert, den Nutzern schutzlos ausgeliefert ist. Anstand bleibt häufig auf der Strecke. Sharpville ruft mit "Stand Your Ground" dazu auf, sich im Leben gegen unqualifizierte Anfeindungen zu stemmen. Der von der MTV Unplugged-Serie bekannte Bruce Springsteen-Country & Western "Red Headed Woman" klingt hier, als hätten sich der junge Elvis, Ray Charles und Willie Nelson sinnbildlich zu einem rhythmisch aufgestachelten Rockabilly zusammengetan. Das Liebeslied "I Don't Need To Know Your Name" lässt das Album dann versöhnlich im lieblich-rührenden Southern Soul-Stil ausklingen und gibt textlich einen Ausblick auf eine neue Liebe, die die Wunden der Vergangenheit lindern kann.
Todd Sharpville ist mit "Medication Time" ein sehr abwechslungsreiches und lebendiges Album mit aussagefähigen und richtungsweisenden Texten gelungen. Der Brite beherrscht sämtliche Stil-Abstecher in Richtung Soul, Pop, Jazz und Southern-Rock meisterhaft, so dass er sich mühelos zwischen sanften und heißen Tönen bewegen kann und trotzdem immer überzeugend-seriös rüberkommt. Der Musiker kann nicht nur stimmlich für erregend-gefühlvolle Momente sorgen, sondern lässt auch seine Gitarre singen und in diesem Zuge ergreifende, wild-romantische Geschichten erzählen. Es ist schön für Todd, dass er seine belastende Vergangenheit bewältigen konnte und wir profitieren dadurch, weil wir nun in den Genuss dieser reifen, vortrefflichen Musik kommen. Die "Medication Time" ist glücklicherweise für Todd Sharpville vorbei, es lebe die geistige Freiheit!