Achtung: Turbulenzen! Stereolab sorgen mit ihrer Klangvielfalt für eine Verwirrung der Sinne.
Die Aufarbeitung des Stereolab-Kataloges geht weiter. Beleuchtete "Electrically Possessed (Switched On Volume 4)" die Jahre 1997 bis 2008, so gibt es jetzt 21 seltene und seltsame Aufnahmen zu entdecken, die zwischen den Jahren 1992 bis 2008 entstanden. Eine Fundgrube für Neugierige und Hardcore-Fans, die jede gespielte Note hören wollen.
Das Projekt Stereolab um Laetitia Sadler (Gesang, Keyboards, Gitarre) und Tim Gane (Keyboards, Gitarre) aus London besteht seit 1990 und mischt den zeitgenössischen Pop mit ihren Beigaben aus Easy Listening und anspruchsvollen Sound-Erfahrungen seitdem tüchtig auf. Kontraste gehören zu ihrer Klang-Philosophie, von zuckersüß bis brutal hart finden sich diverse intensive Herausforderungen auf ihren Platten, was das lockere Durchhören erschwert, den Spannungsgehalt aber immens erhöht.
Die in Zusammenarbeit mit dem britischen Avantgarde-Projekt Nurse With Wound entstandenen Kompositionen "Simple Headphone Mind" und "Trippin' With The Birds" stehen ganz im Zeichen solcher Krautrock-Pioniere wie Kraftwerk oder Neu! und sind zusammen über 30 Minuten lang. Die elektronischen, suggestiv-rauschhaften Minimal-Art-Space-Rock-Stücke werden von künstlich erzeugten Naturgeräuschen, albern-durchgeknallten Passagen und teils verfremdeten Sprachschnipseln begleitet, so dass der Eindruck einer Klanginstallation entsteht.
"Low Fi" ist hingegen ein raspelnd-monotoner Rock-Song mit Noise-Gitarre und lieblich-unbekümmerten Chanson-Gesängen von Laetitia Sadler als Kontrast. Die trockenen, kompromisslos vorwärts peitschenden Rocker "Laissez-Faire" und "Robot Riot" nutzen ähnliche Referenzen und sich wiederholende Abläufe. Beide Songs haben ihre Inspiration wahrscheinlich vom The Velvet Underground-Sound erhalten.
"[Varoom!]" ist ein stumpfer, monotoner New Wave-Rocker, bei dem der Synthesizer und das Schlagzeug für Tempo sorgen. Der freundlich gestimmte Gesang wird in diese lärmende Hülle eingebunden und verliert dadurch seine Dominanz. Nach etwa 4 Minuten wird diese Phase abgeschlossen und es folgen 5 Minuten lang dröhnende Industrial-Klänge in Dauerschleife.
Die Noise-Orgie "Elektro [He Held The World In His Iron Grip]" wandelt sich nach dreieinhalb Minuten zu einem sensiblen Folk-Stück, in Anlehnung an die frühen Belle & Sebastian-Sachen. Nach weiteren eineinhalb Minuten bringen elektrische Gitarren Schärfe ins Spiel, so dass die friedliche Episode eine heftige aggressive Wendung erhält.
Das gut gelaunte, französisch gesungene "Spool Of Collusion" vereinigt auf spritzig-sympathische Weise Pop-Melodik und New Wave-Kauzigkeit. Ein Ohrwurm! Freier Jazz, repetitive Schwingungen und experimentelle Töne bestimmen das Klangbild von "Symbolic Logic Of Now!", dass trotz der heftigen Schräglage einen anziehenden Reiz ausübt. "Forensic Itch" ist eine instrumentale Synthie-Pop-Collage, die Jahrmarkts-Trubel, Klassik-Seriosität, Weltraum-Klänge und "Pet Sounds"-Aroma verbreitet, wie sie auch gerne von The High Llamas angefertigt wurden.
Das einminütige "Ronco Symphony (Demo)" ist eine todtraurige, intime, unfertige Ballade, aber nicht mehr als ein fragmentarischer Ton-Schnipsel. "ABC" ist eine Cover-Version eines Songs der New Yorker Avantgarde-Band The Godz aus 1969. Wütend-aufbrausend wie The Birthday Party um Nick Cave drückt "ABC" den Hörer brutal an die Wand und macht keine Gefangenen. Das Stück endet dann mit einer Minute voller Besinnung im Hippie-Folk-Stil. Was bei "Magne-Music" als Romantic-Folk beginnt, verändert sich durch allmähliche Transformation in einen Alternative-Disco-Track.
"Blaue Milch" wurde für ein Peter Thomas Sound Orchester-Tribute Album ("Warp Back To Earth 66/99") eingespielt. Die dafür ausgewählten Künstler erhielten einen Track und sollte daraus etwas Neues gestalten. Diese Rekonstruktion fängt skurrile, eigentümlich-verschrobene Klangsituationen ein und ergründet dadurch unterschiedliche Einsatzgebiete, so dass der Song sowohl nach Space-Age-Sound, aber auch nach Sex-Film Kulisse klingt.
"Yes Sir! I Can Moogie" mag textlich eine Verballhornung von "Yes Sir, I Can Boogie" von Baccara sein, tritt aber musikalisch nicht in diese engen Disco-Pop-Fußstapfen: Esoterisch veranlagter, wortloser, graziler Singsang von Laetitia Sadler trifft bei Stereolab auf monotone, harte Takte, woraus sich die Faszination der Gegensätze ableitet. Vielfalt erwünscht! "Plastic Mile (Original Version)" bietet ein Potpourri aus schwergängigem Art-Pop, freundlich-naiven Soundtrack-Beiträgen und Computerspiel-Untermalungen an.
"Refractions In The Plastic Pulse (Feebate Mix/Autechre Remix)" wird von einem schnellen, freien Schlagzeuggewitter und bedrohlich wirkenden Synthesizer-Wolken dominiert. Ein verzerrter Lead-Gesang führt mit schrägen Auswüchsen ins Kuriose und der engelsgleiche Background-Gesang verheißt dafür himmlischen Beistand. Das Stück könnte der Soundtrack zu einem Endzeit- oder Horror-Film-Szenario sein. Es hört sich so verhängnisvoll an, dass es sich auch für David Lynchs "Twin Peaks" eignen würde.
Der Electro-Bossa Nova "Unity Purity Occasional" schlägt da ganz andere Seiten auf. Der Song klingt nach gehobener Lebensart, Eleganz, Sonne, Strand und einem kühlen Getränk. Schwungvoll und kultiviert-gewandt präsentiert sich danach der Easy Listening-Jazz von "The Nth Degrees", während das kurze Intermezzo "XXXOOO" eine distanzierte, entrückt-starre Haltung annimmt. Mit "Cybele’s Reverie (Live At The Hollywood Bowl)" demonstrieren Stereolab, wie si ein sinfonisches Pop-Stück auf die Bühne bringen. Der Gesang klingt zwischendurch etwas unsicher und die Bigband etwas hektisch, aber generell hatte das Publikum wohl seinen Spaß.
Stereolab tummeln sich auf vielen Spielwiesen, sie sind voller Entdeckerdrang und haben bei ihren Experimenten auch häufig bestimmte Vorbilder im Ohr. So konzentrieren sich einige der hier berücksichtigten Sammlerstücke auf offensichtliche The Velvet Underground-, Krautrock-, New Wave- und Avantgarde-Referenzen, aber auch der Pop-Aspekt der Gruppe wird abgebildet (wenn auch nicht schwerpunktmäßig).
Stereolab sind lustvoll-wagemutige Sound-Abenteurer, die bei ihren Exkursionen nicht zwangsläufig auf Massentauglichkeit achten (Respekt dafür!). Für Neueinsteiger empfiehlt sich "Pulse Of The Early Brain (Switched On Volume 5)" deshalb allerdings nur bedingt. Für flexibel-aufgeschlossene Hörer aber schon, denn die Zusammenstellung bietet eine wilde, ausgeflippte Orgie mit irren stilistischen Unterschieden, die herrlich unberechenbar sind.