"Electrically Possessed" ist der 4. Teil der Vergangenheitsbewältigung von Stereolab.
Der Sound des Projektes Stereolab ist für den Zufallshörer kaum zu fassen oder einzuordnen, zu unterschiedlich sind die Stücke gestrickt. Der Schwerpunkt kann dabei sowohl auf Lounge-Pop, Bossa Nova und Electro-Pop, wie auch auf Minimal-Art, Jazz oder Chanson liegen.
Stereolab formierten sich 1990 in London aus den Resten der Gitarren-Band McCarthy mit den Ideengebern Tim Gane (Gitarre, Keyboards) und Laetitia Sadier (Gesang, Keyboards, Gitarre). Sie benannten sich nach einem Sublabel von Vanguard Records, für das solch wegweisende, unabhängige und einflussreiche Künstler wie Sandy Bull, Larry Coryell, Odetta und auch Joan Baez aufgenommen haben. Schnell fanden Stereolab im pulsierenden London eine Lücke zwischen Post-Rock, Mutant-Disco, Minimal-Art, Bossa Nova und Kraut-Rock, die sie kreativ ausfüllen konnten. Bei ihnen lernt die Elektronik seitdem das Swingen und Grooven, sie reihen Pop-Traditionen in avantgardistische Ausflüge ein, sie verschmelzen brasilianische Klänge mit Kraut-Rock und das Swinging London der 1960er Jahre lebt wieder neu auf. Alle diese Ingredienzien treiben in sich ständig wandelnder Form seltsam-frische Blüten und tragen so zu einer stilvollen und anspruchsvollen Unterhaltung bei.
Im Jahr 1992 haben die Musiker damit begonnen, ihre Vergangenheit aufzubereiten, indem sie seltene Tracks und bisher unveröffentlichte Outtakes sichteten und klangtechnisch überarbeiteten. Dabei kamen dabei bisher die Werke "Switched On" (1992), "Refried Ectoplasm" (1995) und "Aluminum Tunes" (1998) heraus. Mit "Electrically Possessed" wurde jetzt die Zeit zwischen 1997 bis 2008 durchforstet und mit 25 handverlesenen Tracks nachgebildet.
Die ersten sieben Kompositionen stammen vom Minialbum "The First Of The Microbe Hunters" (2000): Bei "Outer Bongolia" werden wiederkehrende, monotone Rhythmen sehr ernst und konsequent eingesetzt. Und das alles unter dem Feuer lateinamerikanischer Rhythmen. Kunst trifft auf Klischee! Das Vibraphon spielt von Anfang an die selben Töne, über die die anderen Instrumente improvisieren und fantasieren. Dabei entstehen dann Fusionen aus psychedelischen und suggestiven Sounds, Jazz-Grooves und lateinamerikanische Disco-Klänge. Das Stück ist ein Trip, der im Nirgendwo endet und das Gehirn unterwegs zum Expandieren bringt. Ein gewagtes Experiment mit ungewissem Ausgang. Skurril, abgedreht und unter Umständen an den Nerven zerrend. Zehn Minuten bis zur Ewigkeit oder Minimal-Art als Psycho-Droge.
"Intervals" setzt die Stimme von Laetitia Sadier ins rechte Licht. Anmutig wie Astrud Gilberto ("The Girl From Ipanema") oder bisweilen herausfordernd wie Flora Purim ("Light As A Feather") präsentiert sie sich als souveräne Lenkerin von bedeutenden Stimmungen und spontanen Einfällen in diesem anziehend-verspielten Bossa Nova-Chanson. Der kühle Anteil im Gesang verweist auf Nico, die auf "Velvet Underground & Nico" (1967) und ihrem ersten Solo-Album "Chelsea Girl" (1967) einen unnahbaren Gesang beisteuerte. Später sang sie dann noch frostiger, aber das ist eine andere Geschichte. Bei Laetitia geht die Sonne bei den von ihr hervorgebrachten Lauten jedenfalls nie ganz unter. Die Musiker setzen auf Gegensätze, mit denen sie das Stück beweglich halten: Billig wirkende Synthesizer-Klänge geben sich mit gesellschaftsfähigen, feinen Marimbaphon-Klängen ein Stelldichein und der Rhythmus simuliert Tanzmusik. Aber die Tempowechsel durchbrechen den Schwung stets zu Gunsten der inneren Einkehr.
Der Beat von "Barock-Plastic" wühlt sich wuchtig und konstant durch einen Dschungel von Brasilectro-Klängen. Dieser jugendliche Überschwang verleiht dem Stück auch sein Selbstbewusstsein und seine Originalität. Es überholt alles, was zu behäbig nach alten Regeln abläuft und schafft so neue Sound-Tatsachen. Frechheit siegt (manchmal). Auch "Nomus Et Phusis" zapft sowohl Weltmusik wie auch die Errungenschaften der elektronischen Musik an. Daraus entsteht ein fremdartiger Pop-Song oder verfremdeter Latino-Track. Ganz wie man will. Was mit dezenten Trommeln beginnt, wechselt in ein absurdes Ton-Geleier und dann in einen künstlich-kitschigen Chill-Out-Sound. Im Reich der Klang-Illusion ist eben alles erlaubt.
Die Luft auf einem anderem Planeten ("I Feel The Air (Of Another Planet)") stellt sich Stereolab als stakkato-hafte Vokal-Übung vor, die nur wenige Veränderungen mit sich bringt. Diese Tonfolgen durchziehen weite Teile des 8 Minuten langen Stückes. Das ist ein bizarrer Science-Fiction-Soundtrack und ein exzentrisches Chanson in einem. Oder eine Hommage an Laurie Anderson - die mit "O Superman" wahrscheinlich die Vorlage für die verwendete Stimmband-Akrobatik lieferte - und Lou Reed, der für knorriges Songwriting mit Herz und Seele steht. Eine Ausprägung, die am Ende der Komposition nach einem Stilbruch in Richtung Kammermusik dann auch die Oberhand gewinnt.
"Household Names" lässt an Sonne und Strand denken, obwohl das Lied eindeutig zu munter zum Entspannen ist. Easy Listening für Fortgeschrittene! "Retrograde Mirror Form" hypnotisiert durch verschiedene eindringliche instrumentale Wiederholungen, die Echo-artig zwischen dem linken und rechten Ohr hin und her geschickt werden. Eine intensive Übung in Zeitdehnung und Konzentration. Das ist nichts für nervöse, stressgeplagte Individuen, wenn sich auch genau deren Situation hier akustisch widerspiegelt.
Die Tracks auf "Electrically Possessed" wurden nicht chronologisch angeordnet, sie folgen vielmehr einer subjektiven Dramaturgie der Erschaffer. So werden auch gemeinsam veröffentlichte Songs manchmal quer über die Tonträger verteilt. Die Single "Solar Throw-Away" (A-Seite) / "Jump Drive Shut-Out" (B-Seite) stammt aus 2006. Die A-Seite gibt es in zwei Versionen, die beide hier zu hören sind. Die "Original Version" präsentiert psychedelischen Beatles-Pop der "Magical Mystery Tour"-Phase, der auf flotte kubanische Rhythmen trifft. Die andere Fassung klingt eher wie die sich am Rokoko orientierende Film-Musik aus den Miss Marple-Krimis der 1960er Jahre, bevor der exotische Rhythmus wieder zugesteuert wird und sich das Umfeld elektro-poppig verändert.
Die B-Seite beherbergt ein Instrumental-Stück, das eine Stimmungslage zwischen beschaulich und vergnügt ausdrückt. Hier wird Kraut-Rock mit romantischer Film-Musik gekreuzt. Das ist musikalisch nicht unbedingt zwingend, aber ganz nett anzuhören. "Pandora's Box Of Worms" ist ein Outtake aus den "Dots And Loops"-Sessions von 1997, das nach einer unstrukturierten Schüler-Indie-Rock-Band im Übungskeller klingt. Das Ton-Dokument demonstriert zwar die stilistische Breite von Stereolab, ist aber musikalisch überflüssig. Außerdem hat der Take bei einer Minute und elf Sekunden einen derben Aussetzer. Die Tour-Single "Explosante Fixe" (A-Seite) / "L'exotisme Interieur" (B-Seite) erschien 2008. Die A-Seite fühlt sich im locker groovenden Mod-Jazz wohl und "L'exotisme Intérieur" ist ein positiv gestimmtes Lied, das Hippie-Folk und Soul-Pop destilliert und frisch aufbereitet.
Im Jahr 1999 gab es eine 7"-Vinyl-EP mit vier Titeln, die auf 33 Umdrehungen pro Minute lief, "The Underground Is Coming" hieß und auf der damaligen Tournee verkauft wurde: "The Super-It" schafft es, im Grenzbereich zwischen Brasil-Jazz und Folk-Pop gleichzeitig zurückhaltend-entspannt wie auch beschwingt-nachdenklich zu erscheinen. Die Instrumental- und Gesangs-Versionen von "Fried Monkey Eggs" sind im Vergleich dazu etwas vitaler ausgefallen und im Umfeld des Space-Age-Pop zuhause, denn sie wurden für das "Charlie`s Angels In Space"-Videospiel aufgenommen. Space-Age-Pop ist ein Genre, das besonders in den 1950er Jahren gediegene, fremdartige Lounge-Musik hervorbrachte.
"Monkey Jelly" sitzt als ruhige Electro-Pop-Ballade, die mit wortlosem Gesang und Percussion-ähnlicher Elektronik auf sich aufmerksam macht, wieder zwischen allen Stühlen. Nicht auf der EP war die gesanglose Beats-Variante von "Monkey Jelly". Das ist nämlich ein bislang unveröffentlichter Outtake aus dieser Zeit. Nicht unbedingt notwendig, aber eben selten. 1998 kollaborierte Stereolab mit dem Künstler Charles Long für eine (Klang)-Installation mit dem Namen "B.U.A (Burnt Amber Assembly): An Entanglement Of Wholes". Die Musik dafür ist nicht etwa experimentell-verworren, sondern zugänglich-nüchtern ausgefallen und steht jetzt erstmals offiziell auf Tonträgern zur Verfügung. Laetitias Gesang lässt Engel sprechen und die Elektronik blubbert, pfeift, knurrt und scratched, als wolle sie eine unbekannte Star Wars-Episode erzählen. Pop-Art, so bunt wie die Bilder von Roy Lichtenstein.
"Free Witch And No Bra Queen" (A-Seite) und "Speck Voice" (B-Seite) waren auf einer auf 2.000 Stück limitierten Tournee-Single vom August 2001 enthalten. Beide Kompositionen sind mit dem Jazz-verwandt, wobei die A-Seite das Experiment neben den Groove stellt und die B-Seite den Jazz nach Brasilien holt und deshalb luftiger ausgefallen ist. "Heavy Denim Loop Pt 2" ist ein Outtake von den "Mars Audiac Quintet"-Album Sessions aus 1994, der Garagen- und Kraut-Rock zusammen bringt. Die dröhnenden Riffs stammen aus der Garage und der unerbittlich harte, monotone Rhythmus wurde in deutschen Klanglaboren der 1970er Jahre geboren.
"Variation One" wurde für den Soundtrack von "Moog" zu Ehren von Dr. Robert Moog entwickelt, der 1964 den ersten Synthesizer erfand. Es handelt sich hierbei um eine druckvoll-kompakte, voluminös produzierte Komposition mit Retro-Analog-Synthesizer-Solo, der sich für die Tanzfläche eignet und direkt hinter "Blue Monday" von New Order gespielt werden sollte. Oder vor "Dimension M2", das über weite Strecken auch gut in die Beine geht und plötzliche Brüche aufweist. Zu diesem Track, der 2005 auf der CD-Compilation "Disko Cabine" veröffentlicht wurde, gibt es folgenden (gekürzten) Kommentar von Tim Gane: "Nach der Entstehung der Platte "Dots & Loops" (1997) [...] kauften wir uns einen Apple-Desktop-Computer, eine MOTU-Soundkarte und die Software Logic 2 und begannen, sehr einfache Tracks zu produzieren, wobei wir hauptsächlich Samples als Inspiration nutzten und diese mit etwas Gitarre, Keyboards und oft auch wortlosem Gesang überlagerten, den Laetitia und Mary Hansen hinzufügten. Ich persönlich mochte das Schneiden und Zerhacken von Sounds und Rhythmen und versuchte, kleine, pulsierende Songs zu machen [...]. Die meisten dieser Stücke landeten entweder auf Tour-Singles oder auf Compilations. [...] Ich wollte etwas Peppiges und Partymäßiges machen und "Dimension M2" war so nah dran, wie ich an so etwas herankommen konnte - allerdings immer noch ein bisschen kühl und distanziert."
"Calimero" mit Brigitte Fontaine als verführerische, rätselhafte Lead-Sängerin wurde etwa zur gleichen Zeit wie die Tracks für die "The Underground Is Coming"-EP geschrieben und erschien auch 1999 als Vinyl- und CD-Single. Der Song hat alles, was anspruchsvoller und unterhaltsamer Art-Pop benötigt: Thriller-Jazz-Spannung, eine rauchig-erotische Stimme, überraschende Wendungen, einen federnden Rhythmus und phantasievolle Solisten. Leider fand die tolle B-Seite "Monade" - die wieder vom Gesang von Madame Sadier verziert wurde - keine Berücksichtigung bei der Kopplung der Songs für diese Sammlung.
Die Auswahl für "Electrically Possessed" mag kontroverse Meinungen auslösen, beinhaltet aber keine Sammlung von Ausschuss. Sie klingt zwar mitunter unzusammenhängend, schöpft aus diesen Gegensätzen aber auch ihre Reize. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei dem Vorhaben, die Vergangenheit aufzuarbeiten, nicht alles Gold ist, was glänzt. Schließlich gibt es in der Diskografie von beinahe jeder Band auch unausgegorene Ideen. Aber interessant sind die meisten Ausgrabungen allemal. Denn es ist aufschlussreich zu hören, wie sich die Musiker weiter entwickelt haben und was alles ausprobiert wurde. Stereolab ist eine Formation, die sich enorme Freiheiten gestattet, um ihren Weg konsequent zu gehen. Sie biedern sich nicht an Trends an, scheuen nicht das Risiko und sind trotzdem erfolgreich mit ihren Forschungen. Noch ist die Pop-Kultur also nicht verloren!