Viel zu viel ... oder Much too much ... is less then less ...
Viel zu viel ... oder Much too much ... is less then less ...
... so hätte die Überschrift für das Album auch lauten können.
Annie Clark selbst beteuert in zahlreichen Interviews, dass sie sich viel Zeit für dieses Album ließ. Sie habe ziemlich zurück gezogen und asketisch gelebt. Ferner habe sie alle Energie in die Entstehung dieses Albums gesteckt. Mal abgesehen von den ganzen Boulevard-Meldungen über ihr Liebesleben, hat sie durch ihren Grammy Award viel mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erfahren. Nun, ob das wirklich so gut war ... ich habe da so meine Zweifel.
Denn das neue Album "Masseduction" ist eben jener Spiegel des "Fame", der fade Beigeschmack des "Star-Rummels".
Darunter leidet dieses Album besonders, aber auch hauptsächlich leidet es unter dem Produzenten "Jack Antonoff". Er hat so Stars und Starlets wie Lorde, Taylor Swift, Pink, Carly Rae Jepsen etc. produziert. Und das hört man bei allen Songs des Albums, denn auch bei Lorde oder Carly Rae Jepsen hatte er zu sehr seinen Stempel der "Beliebigkeits-80ies-Retro-Geschwurbel-Maschinerie" aufgedrückt.
Allen Alben gemein ist "zu viel ist zu viel", will sagen, einfach völlig überladen. Man findet kaum Raum in den Songs, in fast allen stillen Passagen wurde immer noch irgendein Geräusch oder Sample eingefügt. Somit geht jede Individualität und Identität des jeweiligen Künstlers verloren.
Es ist für mich ärgerlich und unverständlich, weshalb Annie sich darauf eingelassen hat, zumal sie so viel Talent besitzt, nicht nur instrumental sondern vor allem den Songs (auf den CDs wie Actor, Love is giant, St. Vincent) vielschichtige Details, überraschende Wendungen und spitzzüngige Lyrics, in der ihr eigenen individuellen Richtungen, zu verleihen.
Bei Masseduction sind die Lyrics gelungen, ohne Zweifel. Jedoch werden diese nur selten durch die Musik betont oder inhaltlich transportiert. Das kritische Stück "Pills" ist so sehr auf "Beat" getrimmt, dass die eigentliche Message (lakonisch, ironisch) völlig verloren geht. Schlimmer noch sind die vorhersehbaren "Bridge & Refrain" und der "Pseudo-Hip Hop-Rap" Gesang an sich. Die Instrumentierung ist hier völlig daneben. "Hang On Me" lässt sich gut an, wird aber ebenfalls auf Dauer lästig, weil einfach zu geringe Nuancen zu wenig Raum erfahren, obgleich der Song ein tolle Grundstruktur bereit hält. Hier war definitiv mehr drin, mehr im Sinne von "weniger ist mehr".
Absoluter Tiefpunkt ist dann "Sugarboy". Drum Machine rattert einfach nur durch (billige 80ies-Retro) und es scheint, als ob es galt, laut ist alles. Keine Dynamik, kein Aufbau, nur Stress und Dröhnen. Und schon sind wir bei "Los Ageless", das angenehm hervor sticht im Einheitsbrei bis ... ja bis ... bis zum ersten Break, alle Regler nach oben, bis zum zweiten Break, wieder alle Regler nach oben, bis zum ersten Intermezzo, dem sämtliche dynamischen Elemente abhanden gekommen zu sein scheinen um zu einer Art "Behelfs-Bridge" hinüber zu stampfen. Das ist wirklich schade, denn der Songs verspricht zu Anfang mehr, weit mehr, weil er Spannung aufbaut und dezent instrumentiert ist. Doch er endet wieder in einer Kakophonie bereits bekannter Klänge.
Und endlich, ein wirklich annehmbarer Song mit "Happy Birthday, Johnny". Reduzierte Instrumentierung (Piano, Voice, leichte Synths, Steel-Pedal-Guitar), viel Atmosphäre und Raum. Eine richtig gelungenes und intimes Song-Arrangement, das auch im Ohr bleibt.
„Savior“ ist ein ebenfalls interessanter Song. Nicht überladen, erinnert in Teilen an „Prince“, mit vielen verspielten Details. Jedoch wirkt der Song irgendwie unfertig, ähnlich wie bei einem gut erzählten Witz, fehlt ihm sozusagen die „Punch-Line“.
Nun hat man die Hälfte des Albums hinter sich, etwas ratlos und desillusioniert, hofft man nun auf einen Kracher oder zumindest einen Song, welcher das Zeug hat, die erste Hälfte besser zu verdauen.
Und ja, mit „New York“ kommt tatsächlich ein versöhnender Ohrschmeichler. Wieder sehr melodiös, bissige Lyrics, eindringlicher aber nicht aufdringlicher Beat, angeführt von einem dezent verträumt gespielten Piano und einem Chor im Refrain runden den Schmeichler ab. Erinnert schon ein wenig an die Zeiten des Albums „Marry Me“, eben sehr intim und eindringlich.
Und dann folgt der Absturz. Mit „Fear the future“ kommt die Anbiederung an die heutigen omnipräsenten Sounds und Rhythmen. Beliebiger Gleichklang, Konservenmusik – konsumieren und wegwerfen. Nichts davon wird hängen bleiben, ein Song ohne Erinnerungswert.
Hat man Fear the future durch gestanden, folgt gleich noch ein Song der gleichen Gattung. Obgleich „Young Lover“ viel versprechende Elemente besitzt, bleibt er jedoch weit hinter seinen Möglichkeiten zurück, denn die Lyrics und der Gesang sind prächtig gestaltet. Aber die Instrumentierung … Hauptsache alle Regler nach oben, Matsch und Brei, keine Differenzierungen.
„Dancing with a ghost“ kann man als eine instrumentale Überleitung zum nächtsten Song „Slow Disco“ betrachten. Dieser hätte perfekt nach „New York“ gepasst. Dichte Atmosphäre, einfühlsame Vocals, sehr getragen und elegisch und dezent instrumentiert. Als konsequente Fortsetzung könnte man „Smoking Section“ bezeichnen, der letzte Track auf der sehr kurz geratenen CD (knappe 42 Minuten). Ebenfalls sehr atmosphärisch, mit Steel-Pedal-Guitar akzentuiert, leisen Piano-Passagen, etwas einfallslose Elektro-Drums und einem wabernden Synthie-Bass. Einzig der Nuancen reiche Gesang hebt den Song aus der „Masseduction“ heraus.
Auch nach mehreren Hör-Sessions, das Album hat wenig Klasse, eher trifft es den Geschmack der Masse, eben „Masseduction“. Ob Annie das wohl so beabsichtigte, also mit dieser Beliebigkeitsmusik treffend „Masseduction“ zu pointieren? Ich weiß es nicht, und wenn dem so ist, dann hat sie sich zumindest künstlerisch damit keinen Gefallen getan. Kommerziell wird das Album sicher ein Erfolg werden, das steht außer Frage. Da ich St. Vincent einige Male „live“ in einigen kleinen Clubs gesehen habe, kann ich mir kaum vorstellen, dass sie ihre Konzerte weiterhin in kleinen Locations veranstalten wird, was sehr schade wäre. Denn diese besonderen Konzerte waren unglaublich intensiv, fast schon intim (obgleich sie sehr distanziert wirkt) und eindringlich – eine Atmosphäre, die bei großen Veranstaltungen einfach verloren gehen.
Vielleicht hatte sie einfach nur zu viel Zeit ein neues Album einzuspielen und wurde von dem neuen „Zeitgeist“ irgendwie erfasst und eingefangen. Wie so viele Künstler vor ihr, ist sie auf die vielen technischen Tricks aufgesprungen, die zwar einerseits kreativ sein können, aber immer die Gefahr birgen, beliebig zu werden. Bleibt für mich nur zu hoffen, dass sie sich möglichst bald an ihre Stärken und Talente erinnern möge, um wieder so schöne und zum Teil verschrobene Schönheiten wie „Actor“ oder „Love is giant“ in progressiver Weise entstehen zu lassen. Dieses Album bietet einfach zu wenig Eigenwilligkeit oder auch „Indie“ – also „Independent“.