Entgegengesetzt wirkende Kräfte, die aufeinander abgestimmt sind, bestimmen die Abläufe und Ereignisse auf "Parallel Timeline", dem fünften Album von Slothrust.
Slothrust ist ein Trio aus Boston, Massachusetts, dessen Aushängeschild die Sängerin, Komponistin und Gitarristin Leah Wellbaum ist. Als Frontfrau dieser unkonventionell und Genre-übergreifend agierenden Rock-Band geht sie bewusst kompositorische Risiken ein und wird dabei beständig, rebellisch und phantasievoll von ihren Kollegen Kyle Bann (Bass) und Will Gorin (Schlagzeug) in Szene gesetzt. Obwohl Leah auch laut und aggressiv auftrumpfen kann, ist sie keine typische Rock-Röhre, sondern beweist ihre Anpassungsfähigkeit, indem sie zwischen Bissigkeit und Sanftmut vermittelt.
Entsprechend mehrdeutig und emotional verästelt sind viele Songs ausgefallen: Man stelle sich eine Verschmelzung zwischen "Zombie" von den Cranberries mit Gitarren-Attacken aus "Ramada Inn" von Neil Young & Crazy Horse vor, die durch Laurie Andersons-Gesangs-Verfremdungen und zickige Funk-Splitter angereichert wird. Dann bekommt man eine Vorstellung davon, wie "Cranium" klingt. Hier finden sich einige Stilübungen wieder, die sich durch das gesamte neue Slothrust-Werk ziehen, das ab dem 10. September 2021 in den Plattenläden steht: Melodischer Gitarren-Rock, kräftig-zerrender Garagen-Rock, luftig-weitläufiger Folk-Rock, psychedelischer Art-Pop und gegen den Strich gebürsteter New Wave-Sound. Das alles wird durch die an jede Regung angepasste Stimme von Leah Wellbaum zusammen gehalten.
Druckvoll und herausfordernd stürzt sich "Once More For The Ocean" ins grenzenlos optimistische Geschehen, welches von einer hohen Geschwindigkeit zu Höchstleistungen angestachelt wird. Bei all seinem sprühenden Schwung bleibt der Song dennoch charmant und differenziert. Das zum Ende eingeflochtene Gitarren-Solo gebärdet sich selbstsicher und triumphierend, was der tatkräftigen Unterstützung der stämmigen Rhythmusgruppe zu verdanken ist.
Mit "Courtesy" binden Slothrust eine grundsätzlich unsentimentale Ballade ein, die im Verlauf ihre derbe Seite offenbart und somit entkrampfende Dynamiksprünge bereit hält. Auch "The Next Curse" beginnt verhalten, dreht dann aber zu einem förmlich vor Energie berstenden Stück auf, das auch aus der Feder von Kurt Cobain von Nirvana stammen könnte.
"Strange Astrology" ist ein durchgängig ruhiger Track, der seine ausgleichende Wirkung über die gesamte Laufzeit von vier Minuten verteilt. Das gilt im Prinzip auch für "King Arthur’s Seat", wo sich die reife Pop-Seite der Band zeigt. Der Song lockt mit einem dezenten Barock-Klangbild, das dem verträumt-wehmütigen Anschein einen würdigen Anstrich verpasst.
Gleichbleibende Stimmungen innerhalb eines Songs sind die Ausnahme bei den ansonsten eher mehrdimensional aufgebauten "Parallel Timeline"-Stücken, die oft laute und leise Strömungen neben- und übereinander präsentieren. So wie bei "Waiting": Während das Piano für Ergriffenheit und der Gesang für Pathos, Wohlklang und Drama sorgt, tobt sich die E-Gitarre mit dröhnend-vibrierenden Tönen ordentlich aus und die Rhythmus-Fraktion bringt zusätzlich Leben in die Bude.
Der wolkig-ätherische Folk von "A Giant Swallow" kann nach einiger Zeit durch ein nach vorne gemischtes, unnachgiebig marschierendes Schlagzeug auf den Boden der Tatsachen zurück geholt werden. Bei der Classic-Rock-Ballade "White Rabbits" entlädt sich die Intensität nach romantischem Beginn in einem gleißenden Gitarren-Solo. Mit dem harmonischen, mehrstimmigen Folk-Rock "Parallel Timeline" verabschiedet sich das Trio dann ausgleichend-versöhnlich.
Rock-Musik, die visionär, forschend sowie neugierig ist und dabei Zartes und Hartes berücksichtigt, ist nicht an der Tagesordnung. Slothrust stürzen sich mit "Parallel Timeline" in das Experiment, eine für sie neue Form der Wahrnehmung zu ergründen, wobei sie als kreative Musiker neugierig versuchen, Rock-Musik anders zu definieren, ohne die sattsam bekannten Poser-Klischees zu bemühen. Ihr Grunge-Rock ist erwachsen geworden, hat aber nicht seine Zähne verloren, stellt sich nur vielseitiger auf, was der Vielfalt zugute kommt. Hinzu kommt, dass Leah Wellbaum mit dem Album einen philosophischen Ansatz verfolgt: Da wir im Grunde genommen immer auf uns selbst gestellt sind, ist es sinnvoll, seine eigene Spiritualität zu ergründen, um sich in der Gegenwart mit allen Gegebenheiten arrangieren zu können.
Die Beobachtung, dass konträre Gegebenheiten wie Liebe oder Hass, Leben oder Tod unser Dasein durchziehen und bestimmen, scheint die Basis der Motivation für die Entstehung von "Parallel Timeline" gewesen zu sein. Bei den Liedern bekommen wir es mit Gegensätzen wie Wut und Zärtlichkeit oder Melodie und Improvisation zu tun. Oft laufen diese Dinge in einem Song ab, um zu symbolisieren, dass das Leben kein einfacher, ebener Weg ist, sondern ständig von unvorhersehbaren Ereignissen beeinflusst wird. Slothrust demonstrieren mit "Parallel Timeline" eine musikalische Weiterentwicklung, die eine unerschrockene Öffnung zu Gunsten von neuen Erfahrungen bedeutet. Das ist auf jeden Fall ein sicherer Weg, um Stillstand zu vermeiden. Der erste Schritt der Diversifizierung ist jedenfalls gelungen, die Metamorphose sollte aber noch nicht abgeschlossen werden, denn hier ist der Weg das Ziel.
Leah Wellbaum hat bei aller Ernsthaftigkeit bezüglich ihrer sachlichen Weltanschauung noch einen tröstenden Aspekt parat, denn sie ist überzeugt, dass sich hinter den Einschränkungen, die wir aufgrund unserer angepassten, aber nicht optimalen Sinne erfahren, noch eine erfreuliche Verbindung zum Universum verbirgt. Möge sie recht behalten!