Nichts für Weicheier: shame rütteln mit "Food For Worms" tüchtig auf.
In London und Umgebung bildet sich seit geraumer Zeit eine neue Post-Punk-Szene heraus, die durch blutende Seelen oder ein kämpferisches politisches Bewusstsein und einen schmerzend-draufgängerischen Umgang mit den zur Verfügung stehenden musikalischen Mitteln auffällt. Zu den Vertretern dieser Bewegung gehören unter anderem Black Country, New Road, Porridge Radio und Squid. shame klinken sich nach drei Jahren Pause nahtlos mit "Food For Worms" in diesen frisch-wilden Schauplatz mit ein.
shame ist ein Quintett aus Süd-London, das 2014 von den gemeinsam aufgewachsenen Teenagern Charlie Steen (Gesang), Charlie Forbes (Schlagzeug), Eddie Green (Gitarre), Josh Finerty (Bass) und Sean Coyle-Smith (Gitarre) gegründet wurde. Die Gruppe orientiert sich stilistisch unter anderem an Punk- und New Wave-Helden wie The Fall, Wire, Gang Of Four und Talking Heads, findet zwischen diesen Inspirationen aber einen eigenen Ausdruck, um Wut, Zynismus und politische, aber auch private Ansichten zu übermitteln.
Im Januar 2018 erschien das erste rumplig-sperrige Werk mit Namen "Songs Of Praise", das bis auf Platz 32 der britischen Album-Charts gelangte. Genau drei Jahre später kam "Drunk Tank Pink" raus, das den aufrührerisch-zornigen Weg der Band fortsetzte und sogar bis auf Platz acht der deutschen Albumcharts stieg.
Im Vorfeld zur Veröffentlichung von "Food For Worms" wurden shame schon durch ein Punk-Urgesein geadelt. Iggy Pop stellte nämlich den Opener "Fingers Of Steel" am 5. Februar 2023 in seinem Radioprogramm "Iggy Confidential" auf BBC Radio 6 vor. Der Spezialist für rohe, brachiale Töne wird Freude an der Kraft, der Aggression und der krachenden, schräg-herben Unbekümmertheit der Band gefunden haben. Das Hauptaugenmerk der Kompositionen liegt nämlich nicht auf geschliffenen Pop-Melodien, sauberem Gesang und zündenden, Hit-tauglichen Refrains. Hinsichtlich des Unterhaltungswertes wird eher auf authentisch impulsive Gefühlsausbrüche, brachiale Energie sowie unkonventionelle Tempo- und Dynamik-Sprünge Wert gelegt.
Ein Piano, das aus der Ferne konstante, glockenartige Akkorde aussendet, leitet "Fingers Of Steel" ein. Es folgen Stakkato-Gitarren, die die Monotonie übernehmen und verstärkt wieder abgeben. Dann geschieht ein Bruch, bei dem sich die Gitarren im Hintergrund neu orientieren, die Härte zurückfahren, sogar zeitweise psychedelisch-suchend klingen. Der Bass pumpt dazu unablässig und das Schlagzeug schäumt. Der Gesang passt sich der jeweiligen Gegebenheit an und klingt sowohl angeregt, wie auch versöhnlich, aber auch kämpferisch. Der Song wühlt auf, beschwichtigt dann wieder, bricht mit Rock & Roll-Konventionen, beherbergt aber trotzdem dessen rebellische Komponente, bildet jedoch einen eigenwilligen Gegenentwurf zum Classic-Rock.
"Six-Pack" macht noch mehr Radau, fährt hinsichtlich des Tempos auf der Überholspur, bringt durch hitzige WahWah-Gitarren einen wüsten New Wave-Funk-Touch ein und steht so unter Dampf wie ein Schnellkochtopf kurz vor dem explodieren.
"Yankees" ertönt zunächst wesentlich differenzierter. Das Intro besteht aus zwei sich vorsichtig abtastenden E-Gitarren, deren sensible Menüführung jedoch durch einen wuchtigen, schnellen Bass abgelöst wird, der die Gitarren sofort ins Schlepptau nimmt und das Tempo rasant und teils hektisch-überdreht werden lässt. Charlie Steen lässt sich von dem Wirbel anstecken und singt betont flegelhaft, am Rande der Respektlosigkeit.
Eckig-kantiger Punk-Funk in Kombination mit schrillem Heavy-Metal-Dröhnen verleiht "Alibis" sein anarchisches Antlitz. Das heftige Aufbegehren ist ratzfatz nach zweieinhalb Minuten vorbei und hinterlässt vor Erregung einen hochroten Kopf und dann ein Vakuum.
"Adderall" bringt zunächst etwas Ruhe ins Geschehen, wobei die Stimme von Charlie Steen stark nach Lou Reed klingt. Dieser Spuk wird nach einer Minute durch einen voluminös wehenden Chor-Refrain zunächst aufgelöst, um wenig später wieder aufzuleben. Das Stück gestaltet sich - wie viele andere auf "Food For Worms" auch - als Wechselbad der Gefühle, bei dem sich laut und leise sowie langsam und schnell ständig ablösen. ""Adderall" ist die Beobachtung einer Person, die von verschreibungspflichtigen Medikamenten abhängig ist. Diese Pillen verändern den geistigen und körperlichen Zustand und das Verhalten... Es ist ein Lied über Mitgefühl, Frustration und die Akzeptanz von Veränderung. Es geht darum, sich mit der Tatsache abzufinden, dass deine Hilfe und Liebe die Menschen um dich herum manchmal nicht heilen kann", heißt es zum Inhalt des Songs von Seiten der Band.
Aber es geht auch ganz anders: "Orchid" überrascht als schwungvolles, gediegenes Country-Folk-Stück, das mit seinem raffinierten Timing an die australischen Go-Betweens um Robert Forster erinnert. Sehr gelungen und von spezieller Güte. Mehr davon!
"The Fall Of Paul" macht keine Gefangenen. Unbarmherzig wühlt der Bass in den Därmen und der Schlagzeuger vollbringt Schwerstarbeit. Es scheint, als wolle er den Track als erster in einem Rennen, bei dem es um Leben und Tod geht, über die Ziellinie bringen zu wollen. Die Gitarristen verlieren völlig die Nerven und kollabieren in einem berauschenden Stahlgewitter-Orgasmus. Danach kann es keine weitere Intensitäts-Steigerung geben...
Deshalb lässt es "Burning By Design" wohl erst einmal gemächlich angehen. Aber es handelt sich um eine trügerische Ruhe, denn Chaos und Gewalt lauern an jeder Ecke. Entsprechend bricht die Aggressivität immer wieder durch und versetzt den Song sogar noch in einen Hochgeschwindigkeits-Wahnsinns-Rausch.
Um den kompletten Irrsinn zu verhindern, helfen nur noch schamanische Kräfte. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass Charlie Steen bei "Different Person" an Jim Morrison von The Doors erinnert. Das Stück lässt unter Einsatz von Minimal-Art-Strukturen an Beschwörungsrituale denken, um unmittelbar danach seine Mainstream-Qualitäten unter Beweis zu stellen, die als Satire entlarvt werden und in einem Schwall von Auflehnung und Krach untergehen. Ein Overkill an Eindrücken, was erst einmal verdaut werden muss.
Dabei hilft "All The People", das den Underground-Folk von The Velvet Underground aufleben lässt, wobei sich Charlie Steen wie eine angetrunkene Version des jungen Leonard Cohen gebärdet. Allerdings mit Schrägläge in der Instrumentierung und im Gesang.
Irgendwann sind wir alle "Futter für die Würmer". Bis dahin heißt es, das maximale aus seinem Leben rauszuholen, Rückgrat zu beweisen, Spaß zu haben. shame leben das Leben ungeniert, lassen keine Provokation aus, verzichten auf Regeln und haben dabei sogar ein Muster gefunden, das ihnen kommerziellen Erfolg verschafft. Erstaunlich, bei diesem Brüskierungs-Potenzial. Wer Rock-Musik sucht, die leicht ins Ohr geht und sich da schnell festsetzt, liegt hier wahrscheinlich falsch. Wer es aber provokant, unerwartet, dreckig und schrill mag, der ist bei "Food For Worms" gut aufgehoben.