Es lebe der Protestsong, es lebe die Poesie!
Jede menschenfreundlich denkende Person könnte sich fragen: Feminismus, muss das denn überhaupt sein? Die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau ist ja wohl selbstverständlich! Aber leider sieht die Realität anders aus, denn etliche Leute sind evolutionstechnisch noch in der Steinzeit hängen geblieben und benötigen diesbezüglich Nachhilfe. Die kommt inhaltlich für ewig Gestrige und Ignoranten unter anderem von Sarah Lesch.
In Form einer Fabel wird bei "Die Löwin" von einem tapferen, lebenserfahrenen Tier berichtet, das durch zahlreiche Kämpfe zwar angeschlagen, aber längst nicht wehrlos geworden ist. Wenn es Dinge gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt, kann sie immer noch ungeahnte Kräfte freisetzen. Auf sanft gleitenden Pfoten bewegt sich "Die Löwin" filigran-kunstvoll vorwärts, lässt sich nicht in die Karten schauen und weiß neben delikaten Country-Jazz-Momenten auch mit hoffnungsvollen, erwachsenen Pop-Harmonien zu gefallen.
Mit einem aufmunternden Country-Twang schwingt sich "Es schläft ein Lied" zu einem unsentimentalen Love-Song mit offensichtlich traurigem Ausgang empor ("Es schläft ein Lied in mir, das liebt den Moment. Und es hält nicht sein Wort. Es stirbt mit mir im Augenblick. Und es lebt in Erinnerung fort"). Zwischenzeitlich ziehen tatsächlich zwei über grüne Wiesen tanzende, unbekümmerte Menschen in Gedanken vorüber, genauso wie es blumig im Text dargestellt wird ("Als wir einst tanzten im goldenen Garten. Als wir so taumelnd und träumend und wartend. Voll Übermut und voll Gefühl. Und die Angst vor dem Abschied blieb still").
Wie bei einem uralten Country & Western-Song, der ergreifend-schwermütig und schicksalhaft von Land & Leuten berichtet, wird bei "Unten am Fluss" der Tod eines Menschen feinfühlig in tröstende Worte gefasst. Die Mundharmonika vermittelt Einsamkeit, der Rhythmus hält die getragenen Gefühle auf verhaltene Weise zusammen, die Geige weint bittere Tränen und der Chor verstärkt diese süße Schwere durch wohlig ergriffene Ton-Schauer. Sarah Lesch wirkt gefasst, ist von Dankbarkeit durchflutet und kann deshalb trotz des traurigen Anlasses mit fester Stimme singen.
"Licht" beleuchtet klug und poetisch persönliche und gesellschaftliche Verhaltensmuster, um dabei ohne erhobenen Zeigefinger geschickt formulierte Lösungen anzubieten, die ebenso logisch wie auch weise sind. Ganz aktuell sind dabei zum Beispiel diese Aussagen: "Wo alle Schuld sind, ist es keiner und wo keiner eine Schuld will, muss es einer sein – zum Trost gibt’s dann Applaus. Und wer weiß, wem sie dann helfen, wenn es eng wird auf Station. Und wer hier Gott spielt für ´nen schlechten Stundenlohn?". Oder: "Wir zieh’n uns Werte an wie Kleidung, doch wie werden Werte wahr? Und wo ist Frieden nur ein goldnes Accessoire? Wer die Geschichte nicht erinnern will, der muss sie wiederholen. Solang bis alles wieder früher besser war". Hier gibt es jede Menge lebensnahe Lyrik zum Anfassen, die täglich im Radio gehört werden sollte. Der stimmungsvoll begleitende, unaufgeregte Country-Folk-Pop ist wie gemacht als Vehikel für die nachdenklich stimmenden Statements.
Ganz harter Tobak wird bei "Schweigende Schwestern" geboten. Nämlich eine eindringlich, gruselig-realistische Geschichte über sexuelle Gewalt und männliche Überheblichkeit, die tief unter die Haut geht. Eine Form von Late-Night-Jazz nach "Swordfishtrombones"-Vorbild von Tom Waits bildet den schmuddelig-abgründigen Hintergrund zu diesem hochbrisanten Thema, das schon viel zu lange zu wenig Aufmerksamkeit erlangt hat.
Vielleicht geht es bei "Ich trag dich nach Haus" um Verständnis und Hilfe für eine liebenswerte, depressive Person, vielleicht aber auch um einen sehr sensiblen Menschen, der seinen Geistesverwandten gefunden hat. Egal, was der Kern der Lyrik ist, man spürt jedenfalls jede Menge Einfühlungsvermögen, Vertrauen und Anerkennung. Das alles drückt Sarah mit ihrem bedingungslos die Sinne öffnenden Gesang aus und so wird aus dem Barock-Folk-Pop - auch wegen des entschlossen formulierten Refrains - eine suggestive, fesselnde Ballade.
Mit Unterstützung von munteren Ska-Rhythmen gibt es bei "Drunter machen wir’s nicht" ordentlich gepfefferte Kritik an eingefleischten Geschlechterrollen: "Und wie schön, dass du auf dieser Welt bist. Ja, du hast dein Geschlecht nicht gewählt. Aber du hast Verantwortung für dein Verhalten. Hat Mami dir das schon erzählt?". Klartext mit Niveau, der nicht nur im Feminismus-Bereich Gültigkeit besitzt, sondern generell Anwendung finden sollte.
Eine kecke Gypsy-Swing-Untermalung steht bei "Löwenzahn im Wind" als Synonym für die Befreiung von gedanklichem und konditioniertem Ballast, um ein neues, beschwingt-befreites Leben zu beginnen: "Wie lang lass ich mich noch klein halten. Und wieviel lass ich mir noch nehmen? Bis ich lächelnd die Zahl meiner Wünsche sage, ohne mich dafür zu schämen".
Diskriminierung und Gewalt gibt es auf vielen Ebenen und sie richten sich je nach politischem und sozialem Umfeld gegen unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen. Besonders verbreitet ist sie gegen Personen, die schon aufgrund ihres Aussehens nicht ins herkömmliche Erscheinungsbild passen, wie zum Beispiel die Drag Queens. "Die Geschichte von Marsha P. Johnson" handelt von solch einem Menschen, der nur wegen seiner Auffälligkeit sein Leben verlor. Die Gesellschaft ist erst dann eine bessere, wenn man nicht mehr über Gleichberechtigung sprechen muss und wenn sexuelle Gewalt geächtet wird. Zeit wird`s! Die dem Text folgenden Klänge verbinden geschmeidig New-Orleans-Funeral-Jazz-Melancholie mit intimer Folk-Besinnlichkeit.
Für das wortlose "Aus dem Staub" können die Instrumentalisten nochmal beweisen, wie dynamisch und dabei ausdrucksstark und feinfühlig sie agieren können. So wurde auch aus diesem Stück eine überzeugende Ton-Landschaft, die gut und gerne als Wirkverstärker für einen romantischen Film eingesetzt werden könnte, ohne dabei kitschige Klischees zu bedienen.
Der Begriff "TRIGGERWARNUNG" kommt aus der Trauma-Theorie und bezeichnet die Auslösung von bestimmten Reizen, die bei einem traumatisierten Patienten wieder die schrecklichen Situationen ans Licht bringen, die er erleiden musste. Sarah Lesch setzt solche Trigger-Punkte ein, um Aufmerksamkeit für Missstände hervorzurufen. Sie geht dabei bei aller Brisanz oft behutsam vor, sie überzeugt mit Fakten und Belegen, statt stumpf anzuklagen. Sie sucht und verarbeitet emotionale Bezugspunkte, statt ihre vorhandene Wut rauszuschreien. Sie setzt auf Lichtblicke für Gegenwart und Zukunft, statt sich der Vergangenheit zu ergeben. Sie appelliert an die eigene Stärke, statt sich denunzieren zu lassen.
Sarah Lesch wurde 1986 in Thüringen geboren, wuchs im schwäbischen Tübingen auf und lebt jetzt in Leipzig. Die Musikalität kommt nicht von ungefähr, denn ihr Vater ist auch Musiker, wenn auch eher im Schlager- und Volksmusik-Metier tätig. Aber da der Apfel bekanntlich nicht weit vom Stamm fällt, trat sie zumindest von der künstlerischen Neigung her in seine Fußstapfen und veröffentlichte 2012 unter dem Künstlernamen Chansonedde ihr erstes Solo-Album "Lieder aus der schmutzigen Küche", gefolgt von drei weiteren Veröffentlichungen zwischen 2015 und 2020. Für das sechsminütige Lied "Testament", dass sie für ihren Sohn schrieb, gewann sie 2016 den Protestsongcontest in Wien. Im selben Jahr erlangte sie den 2. Platz beim von Udo Lindenberg initiierten Panikpreis.
Ihre Motivation zieht Sarah Lesch unter anderem daraus, dass sie ohne vorgegebenes Ziel die Dinge ausdrücken möchte, die sie beschäftigen und aus ihr raus müssen. Die Themen sollen dann nach Möglichkeit musikalisch individuell und neuartig verpackt werden. Intuition und Kreativität gehen also bei "TRIGGERWARNUNG", das am 19. November 2021 erschien, Hand in Hand. Die vielseitige Musikerin kultiviert ihren gediegenen, universellen Americana-Chanson-Sound mit weitsichtigen, humanistischen deutschen Texten. Aber Worte sind ein scharfes Schwert. Bei Sarah Lesch trennen sie zwischen Lüge und Realität. Die Song-Poetin ist also - ganz im Geiste von Reinhard Mey - als vorurteilsfreie Beobachterin unterwegs. Das Land braucht mehr solcher anständig-intelligenten Dichter(innen) und Denker(innen), die veraltete, verkrustete Weltbilder aufbrechen und ad absurdum führen!
Das klingt dann auch musikalisch absolut überzeugend und zeigt sich in einem flexiblen, wahrhaftigen und klaren Sound, der zum Beispiel an die Cowboy Junkies erinnert, was als großes Kompliment und nicht als Plagiatsvorwurf gemeint ist. Die Lieder auf dem fünften Werk "TRIGGERWARNUNG" zeichnen sich durch eine schlüssige Beobachtungsgabe, eine filigrane, der emotionalen Sachlage angepasste Instrumentierung und einem unaufgeregten, souveränen, themenabhängig angepassten Gesang aus. Mit anderen Worten: Hier wird gute und anspruchsvolle Unterhaltung geboten!