"A Liberdade" fügt die Rodrigo Leão-Werke "O Método" (2020), "Avis 2020" (2020) und "A Estranha Beleza da Vida" (2021) zu einem sinnvollen Gesamtpaket zusammen.
Rodrigo Costa Leão Muñoz Miguez oder kurz Rodrigo Leão ist eine Künstlerinstitution in Portugal. Bevor er Mitte der 1980er Jahre Gründungsmitglied und Keyboarder der Weltmusik-Kapelle Madredeus wurde, spielte er schon ab 1982 Bass in der New Wave-Band Sétima Legião, die stark vom düsteren Klang von Joy Division beeinflusst war, sich aber auch traditioneller Folklore verschrieb, der sie einen modernen Pop-Anstrich verlieh. Das Gedankengut, dass die Aufhebung von Stilgrenzen einen Mehrwert bei der Gestaltung von Kompositionen hervorbringt, war also schon immer ein Grundpfeiler in der Musik von Rodrigo Leão. Wobei seine Zutaten ständig verfeinert und ergänzt wurden.
Ab 1993 gab es dann auch Solo-Veröffentlichungen, die ihm weltweite Anerkennung und etliche Auszeichnungen einbrachten. Seine Kompositions-Mixtur beinhaltet sowohl Einflüsse aus der modernen Klassik wie auch vielfältige cineastische Züge, traditionelle portugiesische Fado-Sequenzen, Elektronik-Gefrickel und Minimal-Art-Einschübe sowie diverse Pop-Bausteine. Alles fein abgestimmt, geschmackvoll angerichtet und künstlerisch wertvoll aufbereitet.
Rodrigo Leão nahm im Jahr 2017 "Life Is Long" gemeinsam mit dem aus Australien stammenden und in New York lebenden, introvertierten Singer-Songwriter Scott Matthew auf. Die dort vorgestellten Klänge bestanden zum großen Teil aus melancholischem Pop kammermusikalischer Prägung, mit überschäumendem Pathos beim Gesang und Feingefühl bei der instrumentellen Inszenierung. Das Werk ist ein weiteres Beispiel dafür, wie sensibel der Portugiese aus Lissabon Gastmusiker- und -stimmen in seine Klangvorstellungen aufnimmt. Sie werden stets so überzeugend integriert, als wären sie die einzige und optimale Wahl für den jeweiligen Track.
Dieses Prinzip setzt sich auch bei "O Método" fort, dem dienstältesten Werk der "A Liberdade"-Trilogie, dessen Ideenfindung schon bei der 2017er-Tournee zu "Life Is Long" begann, dessen Ergebnis aber erst 2020 veröffentlicht wurde. Um neue Einflüsse aufzunehmen, wurde der italienische Komponist und Pianist Federico Albanese als Produzent engagiert, welcher minimalistisch-ätherische Arrangements bevorzugt.
Rodrigo Leão vermittelt seinen Hörerinnen und Hörer mit "Ideia 1" die Befriedigung des tiefen Verlangens nach Ruhe und Geborgenheit. Die Klarinette wirbt für Vertrauen, das Piano übt sich in Gelassenheit und ein Synthesizer-Akkordeon führt uns mit wellenartigen Tönen gedanklich ans Meer.
Bevor der kindliche Gesang von Rodrigos Tochter Sofia bei "A Bailarina" mit ausgedachten Worten einsetzt, hört man noch ein Summen, das nach einer gestopften Trompete klingt. Die "Tänzerin" tanzt bei dem Stück auf verschiedenen Hochzeiten: Was gedankenversunken beginnt, mündet in einem unschuldig wirkenden Kinderlied-Kontext, begleitet von einem Jugend-Chor, bevor das Lied langsam an pulsierendem Rhythmus gewinnt. Eine sehnsüchtige Geige versucht, die einsetzende stimulierende Wirkung abzuschwächen, aber der Track wird zu einem pochenden Electro-Pop mit sanfter Seele aufgebauscht.
Der Produzent Federico Albanese beschäftigt sich viel mit Neo-Klassik und Ambient-Sounds. Er hat unter anderem dazu beigetragen, dass der Track "O Método" trotz des Einsatzes eines klassischen Streichquartetts einen unverkrampften Anstrich bekommen hat.
"The Boy Inside" präsentiert den Sänger Casper Clausen von Efterklang. Wenn man so will, ist er ein Geistesverwandter von Rodrigo Leão, wenn es darum geht, eine Kunstform zu entwickeln, die Pop, Klassik und Avantgarde so miteinander vereint, dass die einzelnen Genres ihre Bedeutung verlieren und in einem neuen Verständnis von anspruchsvoll-ästhetischer Musik aufgehen. In diesem Fall werden die Töne aus Geheimnissen, Unbehagen und Ruhelosigkeit gespeist, wie es Rodrigo Leão ausdrückt.
"Transporte" transportiert pure schwebende Ambient-Klänge, die sich ganz langsam dynamisch steigern. Sie enden jedoch, bevor sie aggressiv zu werden drohen. Ein ähnlicher Schwebezustand begleitet "Red Poem". Der Song findet aber letztlich eine rhythmische Auffrischung und der Gesang der ausdrucksstarken Sopranistin Ângela Silva verwandelt das Stück ohne Anstrengung in klangliches Gold.
Das verwunschene Spaghetti-Western-Flair von "O Cigarro" wird von weichen, wolkigen Chor-Gesängen in Traumlandschaften entführt, bevor der russische Lead-Gesang der Geigerin Viviena Tupikova eine desillusionierte Strenge über die friedlichen Klänge legt. Der optimistische Grundton kann sich deshalb nie vollständig entfalten. Die bedrückende Stimmung von "O Convite" wird durch federnd-wabernde elektronische Loops aufgeweicht, so dass die traurige Gefühlslage ihren beherrschenden dunklen Einfluss ein wenig einbüßt.
"Loutolim" ist der Name einer Kirche in Goa (Indien), dessen Chor Rodrigo inspiriert hat. Das Stück lässt eine gewisse "Twin-Peaks"-Seltsamkeit aufkommen. Genau wie in Teilen des von Angelo Badalamenti geschriebenen Soundtracks für die Mystery-Thriller-Serie von David Lynch aus den 1990er Jahren, entsteht auch hier eine geheimnisvoll-undurchsichtige Atmosphäre.
Wogende Keyboard-, Chor- und Streicher-Passagen geben dem Stadtbild von "Dresden" einen lebendig-beweglichen Anstrich. Es herrscht in dieser Momentaufnahme allerdings kein buntes Treiben, sondern eine übersichtliche, ruhige Beschaulichkeit. "Lula Mistério" lässt musikalisch keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sich hinter dem Titel ein unbehagliches Mysterium versteckt. Zu dramatisch laufen die Sequenzen ab, um an eine harmlose Situation denken zu können. Gefahr lauert an jeder Ecke, sie zeigt jedoch nicht ihre Gestalt und schlägt nicht zu.
"Parte 1" erzeugt auf eine sich nach und nach steigernde Weise eine Spannung, die furchteinflößende Gegebenheiten vor dem geistigen Auge entstehen lässt. "O Método" ist sowohl eine milde Streicheleinheit wie auch eine attraktive Stimulation für die Sinne. Der Höreindruck ist wie barfuß laufen auf unterschiedlichen Untergründen: Man hat bestimmte Vorstellungen davon, wie sie sich anfühlen mögen, aber erst der Versuch macht klug. So ist es auch hier: Theoretisch gibt es eine Vorstellung davon, wie sich kammermusikalischer Weltmusik-Electronic-Pop wohl anhören mag, aber wie raffiniert-beseelt solch eine Verbindung umgesetzt werden kann, vermittelt nur der Selbst-Hör-Versuch.
Die neun Stücke der "Avis 2020"-EP sind von den Klängen der Natur inspiriert worden und wurden bisher ausschließlich digital veröffentlicht. Die daheim von Rodrigo mit Synthesizer und Gitarre eingespielten Klänge finden jetzt endlich bei "A Liberdade" den richtigen Rahmen und eine zweckmäßige, nützliche Verwendung.
"Transporte 20" klingt tatsächlich wie die Untermalung einer Natur-Dokumentation, wenn die Kamera über faszinierende Landschaften fliegt: Besonnen, fließend-schwebend, beobachtend und die Schönheit der Bilder einfangend.
Dieser erhabene, in sich ruhende Aspekt zieht sich auch bei "A Primeira Ideia" fort. Ätherisch verwehte Stimmen und ein paar sehr langsame Keyboard-Tupfer reichen, um Töne in pure Schönheit und Anmut zu verwandeln.
Vogelgezwitscher, Synthesizer-Zirpen und -flirren sowie wenige gezupfte fremdartige Töne, fertig ist das meditative Klang-Mosaik von "Terra de Barro". Die Noten perlen bei "O Jasmim" wie Regentropfen nieder, bevor eine akustische Gitarre und ein Klavier einen vitalen Klassik-Folk-Sound erzeugen.
"O Piano de Maio" ist eine Piano-Solo-Nummer, bei der ein zügiges, fröhliches, plätscherndes Spiel von lähmender Tragik abgelöst wird. Die elektronische Spielerei "Gatos às Voltas" löst dann Erinnerungen an Glockenspiele aus.
Für "Tempo de Espera" werden Outdoor-Aufnahmen von scheinbar rückwärts laufenden Tongebilden überlagert und Oboen-artige Schwingungen erzeugen als Kontrast echohafte Wohlfühl-Momente. "Os Sobreiros" scheint klirrende Kälte vertonen zu wollen und bei "Caminhos de Avis" baut das Piano erregte Abläufe auf, die anschließend romantisch verklärt werden.
"Avis 2020" beinhaltet neun Miniaturen, die wie zufällig zusammengewürfelt erscheinen. Wie spontane Ideen, die gesammelt wurden, um eigentlich irgendwann als Einleitungen, Zwischentöne oder Abschlüsse für noch unfertige Alben zu dienen. Skizzen, die es wert sind, nicht verloren zu gehen, aber bei ihrer Entstehung noch keinen festen Zweck erfüllten.
Bei "A Estranha Beleza da Vida" erfolgt die Betörung der Sinne durch das Verständnis der seltsamen Schönheit des Lebens. Der portugiesische Musiker und Komponist Rodrigo Leão ist mit seinem neunzehnten Volle-Länge-Werk (wieder einmal) der seltsamen Schönheit des Lebens auf der Spur. Er lässt seine Kompositionen gerne wie einen Film ablaufen, mit Haupt- und Nebendarstellern, die phantasievolle Geschichten erzählen, welche unterschiedliche Gefühlsebenen offenbaren. Dabei entstehen dann wie selbstverständlich seltsame, schöne, ungewöhnliche und auch vertraute Tondichtungen, die speziell, aber auch eingängig sein können. "A Estranha Beleza da Vida" ist voll von solchen Gebilden, die durch ihren eigentümlichen Charme lange Schatten werfen, die nachhaltige Höreindrücke gewährleisten.
Die russisch-stämmige, in Kanada lebende Singer-Songwriterin Michelle Gurevich, die auch schon unter dem Namen Chinawoman Musik gemacht hat, leiht ihre laszive Alt-Stimme - die stellenweise an Chrissie Hynde von den Pretenders erinnert - der Eröffnungsnummer "Friend Of A Friend". Die kurzen Akkorde der Geigen weisen Elemente der modernen Klassik auf und tragen zum Tanz-Rhythmus bei. Die Streich-Instrumente könnten sich aber genauso in einem Kaffeehaus-Orchester wohl fühlen. Wenn sie ihre schwelgenden Töne absondern, scheinen sie den Soundtrack für einen romantischen Film abzubilden, der von Pop-Leichtigkeit gespeist wird. Diese gegenläufigen Tendenzen tragen zur Eigenartigkeit dieses Songs bei, der sowohl agile wie auch versonnene Momente aufweist.
Mit "A Sala" erschafft Rodrigo eine Klangebene, für die der Begriff Easy Listening wie geschaffen ist, so entspannend und zugänglich legen sich die Töne auf die Hörnerven. Auch "Sibila" hat die Ruhe weg: Tropfend, klopfend und klingelnd erinnern die Schwingungen an das rhythmisch bestimmte Schulwerk von Carl Orff, wobei hier ein indisches Harmonium die bedächtige Melodieführung übernimmt.
Für "Who Can Resist" suhlt sich Kurt Wagner von Lambchop mit seinem knurrigen Bariton im nostalgischen Cabaret-Jazz. Dabei füllt er seine Rolle als erhabener Schnulzensänger voll aus. Zur Unterstützung breiten die Instrumente eine sentimentale Atmosphäre vor ihm aus. Bei "45 Segundos" ist der Name Programm, denn das todtraurige, von Streichinstrumenten aufgeführte Stück hat (fast) genau diese Länge.
Die portugiesische Sängerin Débora Umbelino, die sich Surma nennt, verleiht dem geisterhaften Klanggebilde "O Ovo do Tempo" durch ihren sphärischen Gesang eine eindringlich-gespenstische Note. Die fragile und klangmalerische Begleitung übernehmen ausschließlich Synthesizer und ein akustischer Stand-Bass. Die spanische Sängerin Martirio kennt sich im Flamenco aus und gibt der dunklen Calexico-Style-Ballade "Voz de Sal" danach eine leidend-folkloristische Färbung mit.
"Introdução nº 8" klingt wie die Einleitung zu einem Film mit tragisch geprägtem Inhalt, während "A Valsa da Petra" spritzig-perlend und schunkelnd doch eher eine genießerische, frankophile Lebensart in den Vordergrund rückt. Bei "O Maestro" hat der Tango deutliche Spuren hinterlassen, was den Track mondän und lustvoll erscheinen lässt, wogegen "Old Happiness" getragen und schwermütig nach ernster "Hochkultur" klingt und "Janeiro 2021" ausgleichend, hell und harmonisch aufgestellt ist.
Das Licht des Polarsterns soll Orientierung geben und so sorgt auch "Estrela do Norte" für eine klare Ausrichtung auf ein ergriffen-besinnliches musikalisches Thema. Der Gitarrist, Komponist und Produzent Suso Sáiz war ein Pionier der New Age-Musik in Spanien und hat den Track "A Estranha Beleza da Vida" durch eine idyllisch-neblige Klanginstallation geprägt, die Alltagsgeräusche genauso wie Space-Sounds enthält. Schönheit liegt im Auge des Betrachters und muss nicht unbedingt nur positiv gestimmt sein.
Kunst ist manchmal eine ernste, trockene Angelegenheit. Nicht so bei Rodrigo Leão, denn weil seine Kompositionen so vielfältig dargeboten werden, kommt keine Langeweile auf und weil er nicht provozieren möchte, klingen seine Werke so würdevoll. "A Estranha Beleza da Vida" feiert das Leben in all seinen Facetten und zelebriert eine akustische Weltreise. Die Platte überzeugt durch Einfühlungsvermögen und formvollendete Arrangements. Ein besonderer Triumpf der seltsamen Schönheit des Lebens!