Singend auf Sinnsuche
Purple Schulz hat in den letzten 34 Jahren schon oft bewiesen, daß er (ob allein oder im Team) genreübergreifend perfekte Songs schreiben kann, die sowohl unterhalten als auch Haltung zeigen, tiefschürfende Balladen wie tanzbare Popsongs, inhaltlich in beinah alle Denkrichtungen, immer mit Texten, die eine schlüssige Geschichte erzählen und weit mehr sind als nur phonetischer Kleister oder handlungsfreies Befindlichkeitsgesäusel. Auch die vielen Alben in der Vergangenheit waren überwiegend ganzheitlich wirklich gut. Doch mit “Der Sing des Lebens“ legt er jetzt inzwischen sechzigjährig ein wahres Meisterstück vor. Das Album klingt lebensreif und gleichzeitig wie nach einer Frischzellenkur. Keine leise Spur von Altersmilde, aber eben auch kein jugendlich unausgegorener Quatsch, den man hätte besser bleiben lassen. Zehn Stücke; jedes ein bemerkenswerter Solitär und doch alles aus einem Guss!
Übertriebene Euphorie? Nun schauen wir uns die Songs doch einfach mal im Einzelnen an:
1. Das ist die Zeit
Getarnt als eingängiger und kraftvoller Pop/Rock-Song, den man sofort mitsingen kann, steigt Purple Schulz in sein neues Werk ganz konkret und handfest ein. Markus Wienstroer, der brillant mit seiner Gitarre zur angenehm erdigen Färbung des gesamten Albums beiträgt, die Songs mal klar definiert rocken läßt und dann wieder einfach elegant ausgarniert, legt ein kurzes Intro auf der E-Gitarre, das Schlagzeug kommt hinzu und erhöht unmittelbar die Pulsfrequenz und der Text, der dann folgt, ist nichts weniger als eine unmißverständliche Ansage zum Zeitgeschehen, der die vergleichsweise leichte Komposition kontrastiert: “... Die Angst weht durch die Straßen, sie kriecht in jedes Haus, der Haß reibt sich die Hände und sorgt für den Applaus...“ Politisch so konkret zu werden, ist im Laufe der Jahre (zumindest in Liedform) unter Musikern leider sehr aus der Mode gekommen. Zu groß die Sorge, daß Radiostationen es als zu polarisierend empfinden und deshalb nicht spielen werden. Und sicherlich auch davor, mit dem Text ins Phrasenhafte abzudriften. Davon hier keine Spur. Das Lied ist wie ein beherzter Schlag mit der flachen Hand auf die Tischplatte, allerdings ohne Zornesröte im Gesicht, viel mehr motivierend – das ist unsere Zeit, Stammtischparolen haben noch nie irgendwas besser gemacht; also Hintern hoch und aufeinander zugehen, statt zu giften und zu geifern. Daß gerade dieses Stück gewissermaßen als erste Single des Albums ausgewählt wurde, ist mutig und wohltuend. Unbedingt auch den aufwendigen Videoclip zu dem Lied ansehen! Die wirkungsmächtigen Bilder ergänzen den Song sehr eindrucksvoll!
2. Du bist da
Das könnte englisch gesungen ein Lied von Willie Nelson sein. Und diesem Vergleich wohnt größtes Wohlwollen inne. Schlimm genug, daß der amerikanische Volksheld in germanischen Wäldern nicht ansatzweise den Stellenwert hat, wie ihn sein Freund und Kollege Johnny Cash spätestens posthum auch hierzulande genießt. Einen so lupenreinen Storyteller-Countrysong gab es meines Wissens bisher von Purple Schulz nicht. Und dann schüttelt er das Ding mal eben aus dem Handgelenk, als hätte er jahrzehntelang nichts anderes gemacht. Großartig! Eben weil nicht nur eine Stilistik neu erschlossen wird, sondern weil das Lied Geschichten über Menschen erzählt, so daß man beim Hören sofort die besungenen Szenen vor Augen sieht.
3. Da denkste jetzt mal drüber nach
Drittes Lied, dritter musikalischer Stil. Daß Purple Schulz über den einfach wunderbar bekloppten Humor von Monty Python lachen kann, fällt sich nicht schwer vorzustellen. Aber daß ausgerechnet er Jahrzehnte später die ultimative musikalische Antwort auf Monty Pythons “Always look at the bright side of life“ liefert, ist dann doch eine echte Überraschung. Antwort wohlgemerkt, keine deutsch betextete Coverversion! In Musik und Inhalt könnte die Nummer von der britischen Chaotentruppe stammen und Purple Schulz mittendrin! Er hält dem lieben Gott eine Predigt (und was für eine!) und uns ganz nebenbei den Spiegel vor die Nase – originell, skurril, quietschend komisch und hinterrücks doch bitterernst, einfach nur ein toller Song und eine weitere, neue Facette in seinem gesamten Schaffen!
4. Es reicht!
Energisch und wütend. Eine Bestandsaufnahme einer Welt, die rasant immer mehr aus den Fugen gerät. Nicht von selbst, sondern weil wir zuschauen wie ein paar Entgrenzte ihre Egoismen ausleben und dabei alles vor die Wand fahren. Zu einer sich bedrohlich aufbauenden und gefühlt auf den Hörer zurollenden Musik, findet Purple Schulz eindringliche Worte mit einem Gruß ins Oval Office: “Idioten machen Quote bis die Hütte brennt, Dummheit kennt keine Grenzen und wird sogar Präsident... Nur ein paar Gramm Angst, eine Prise vom Neid, ein Löffel Haß und wir sind wieder mal soweit – es reicht!“
5. Schweigen
Die erste amtliche Ballade des Albums und das erste Liebeslied. Emotionale Balladen zu schreiben und zu singen, die kitschfrei ehrlich Gefühle transportieren, beherrscht Purple Schulz bekanntlich und schon oft in den Charts dokumentiert seit jeher meisterlich. “Schweigen“ aber ist ein trickreiches kleines Kunststück. Fast drei Minuten lang zieht die melancholische Musik den Hörer mit in eine Szene, die sich wieder einmal sofort vor dem inneren Auge entspinnt. Traurig, perspektivlos, gescheitert wirkt die wortmalerisch gezeichnete Szenerie. Und wie aus dem nichts, dreht er in den letzten Sekunden das Lied um und entläßt den Hörer mit dem wohligen Gefühl der Zuversicht. Da ist er ja doch, der Silberstreif am Horizont!
Die durch ihre Zerbrechlichkeit berührende Komposition stammt von Purple Schulz; den feinfühligen Text, der mit poetischer Leichtigkeit die Stimmung kurz vor Schluß von Niedergeschlagenheit in Zuversicht wendet, schrieb allerdings ein anderer Schulz: Ben Schulz, ältester Sohn von Purple und Eri, der wie auch schon beim letzten Album des Vaters, auch hier auf “Der Sing des Lebens“ eindrucksvoll songschreiberische Spuren hinterläßt.
6. Ab heute ist für immer
Ein Album ist u.a. auch dann richtig gut, wenn Songs miteinander korrespondieren. Man sieht am Ende von “Schweigen“ diesen zarten Hoffnungsschimmer aufleuchten und ein Lied später explodiert es; alles taghell, nur noch gleißendes Licht! Ein Ja zum Leben, ansteckende Euphorie, auch dafür sollten Musiker Musik machen! Hier geschehen.
Daß man beim Hören dieses Songs im Booklet bei den Credits nachschaut, ob Purple Schulz das Stück womöglich gemeinsam mit Peter Gabriel und/oder den Herren von U2 geschrieben hat, beweist nur in welcher Liga er sich als Songschreiber befindet. Er braucht die Groß-Arenen-Bespieler natürlich nicht, er hat den Song wie üblich allein und mit seiner Frau Eri geschrieben, wie übrigens die allermeisten Stücke des Albums.
7. Das ist nicht fair
Ungebremste Lebensfreude Teil 2. Und ohne diese Facette wäre ein Purple Schulz Album auch nicht authentisch. So sehr er sehr ernst und sehr feingeistig denkt und fühlt und so immer schon Lieder aus seinem Seelenbergwerk ausgräbt und zutage fördert, sitzt ihm auch Gott sei Dank immer ein Schalk im Nacken, der in der Vergangenheit Hits wie “Schöne Leute“, “Du hast mir gerade noch gefehlt“ oder “Bis ans Ende der Welt“ (jaja, “Verliebte Jungs“ natürlich auch) mit schelmischem Grinsen in die Welt geworfen hat.
In eben dieser Tradition steht “Das ist nicht fair“. Tanzbar und mit einem intelligent-humorvollen Augenzwinkern geht es um die Veränderungen, die das Älterwerden so anatomisch mit sich bringt und die man nicht uneingeschränkt bejubeln kann. Das Lied aber dafür umso mehr!
8. Ich wünsch mir Du bleibst
Was für eine Ballade! Ganz großes, Musik gewordenes Gefühlskino! So gut, weil so intensiv echt und völlig frei von süßlichem Kitsch. Jeder, dem schon einmal eine große Liebe zu entgleiten drohte, ohnmächtig nur noch zusehen könnend, wie die Geschicke weiter verlaufen, wird bestätigen können, daß es sich exakt so anfühlt, wie dieses Lied klingt. Ein letztes Aufbäumen, ein letztes: Geh nicht!, dann nur noch Hoffen auf einen neuen Höhenflug und zeitgleich schreiende Angst vor dem Untergang.
9. Nimm es mit
Nach der großen schicksalsschweren Ballade zuvor, ist “Nimm es mit“ ein Lied wie eine innige, zärtliche Umarmung. Der ermutigende Hinweis: Das Leben ist im Kern immer gut und schön und lebenswert, auch wenn nicht immer alles schön und gut ist und manchmal sogar lebensfeindlich. Federleicht und beruhigend singt Purple Schulz Lebensstationen und Situationen an, die wohl in den meisten Biographien so oder so ähnlich zu finden sind. Schönes und Unangenehmes, Glück und Leid... “Nimm es mit, egal was kommt, es hat Dich ausgesucht, manchmal Segen, manchmal Fluch, ganz egal was kommt“.
10. Das letzte Mal
Dieses durch und durch eindrucksvolle Album schließt ganz leise, mit einer Ballade, so still, so intensiv, mit einer so sagenhaften Wucht, daß man schon aus Holz sein müßte, um davon nicht im Innersten berührt zu sein. “Das letzte Mal“ ist eine dieser Kompositionen, die eigentlich gar keinen Text bräuchte und man würde trotzdem verstehen worum es geht. Glücklich, wer seinen Lebensmenschen gefunden hat und sich nach gemeinsam durchlebten und durchliebten Jahrzehnten genau das wünscht, was dieses Lied Ton für Ton durchweht.
Über den Sinn des Lebens wurden viele Buchregalmeter vollgeschrieben; ein paar schlaue Zeilen werden darunter gewesen sein, viel Wahnsinn und jede Menge Unfug. Suchen wird ihn jeder für sich alleine müssen. Und finden? Wer weiß?! Purple Schulz nähert sich ihm singend und dringt weiter vor, als so mancher Denkerfürst mit staubtrockenen philosophischen Dehnungsübungen. Denn Sinn des Lebens ist es ganz sicher auch gern zu leben, samt Versuch und Scheitern. Und darüber läßt sich singen.
Die großzügige Bonus-CD (fast eine Stunde Spielzeit!) ist im Grunde ein eigenständiges Live-Album der Tour 2016, enthält wirkliche Highlights - neben Songs, die zuvor auf keinem Studioalbum waren, auch Klassiker in wundervollen neuen Arrangements, die sich maßgeblich von den bekannten Studiofassungen unterscheiden - und macht deutlich: Man verpaßt wirklich einen schönen Musikabend, wenn man die Chance nicht nutzt und ein Konzert der bereits laufenden großen “Der Sing des Lebens Tour 2017/18“ besucht.
(Wichtige Anmerkung: Inzwischen ist es ein übliches Marketing-Instrument, daß in Bewertungsforen, wie diesem hier, gezielt von der Industrie Werbetexte platziert werden. Es ist relativ einfach und kaum nachweisbar. Dies entspricht weder meiner Vorstellung von fairem Umgang, noch der von Purple Schulz. Darum hier der Hinweis, daß der Autor dieser Rezension in die Entstehung eines Liedes des Albums involviert war, folglich nicht nur Fan und Käufer ist. Unstrittig, daß persönliche Nähe den Blick auf ein Werk verändert. Ich glaube dennoch, daß meine Begeisterung über den Sing des Lebens auch ohne diesen Aspekt nicht anders ausgefallen wäre. Dennoch sollten Sie dies als Leser wissen, um diesen Artikel für sich zu gewichten. Am Besten aber, Sie hören einfach selbst. Es lohnt sich!)