Liebe, Tod und Auferstehung, Bibel-Motive, Elvis-Referenzen und Shakespeare-Anleihen: Polly Jean Harvey befand sich für "I Inside The Old Year Dying" auf der Suche nach Bedeutung.
"I Inside The Old Year Dying" ist das zehnte Studio-Album von PJ Harvey und es ist ein ambitioniertes Art-Pop-Werk geworden. Extravaganz in Form von kraftvollen Brüchen und Ausbrüchen sind eher selten, es liegt jetzt eine spezielle, kultivierte Eigentümlichkeit in Form von ungewöhnlichen Abläufen, Klangfarben und Wendungen vor. Ein Spaß an der Schaffung von originellen Sounds ist zu spüren, die oft mit einer versöhnlich-übersinnlichen Komponente verschweißt werden. Die Kompositionen besitzen nicht die experimentelle Schärfe und kompromisslose Provokation der Schöpfungen von Björk, sie entziehen sich aber trotzdem hinsichtlich ihrer nicht übermäßig ausgeprägten Eingängigkeit dem Mainstream, stellen also quasi eine Soft-Variante der experimentellen Pop-Kunst dar.
Wie ein Nebelhorn sendet "Prayer At The Gate" zu Beginn unklare Signale in den Äther und erhält durch den hohen Gesang von PJ Harvey Antworten, die von lieblich aussehenden Sirenen aus der griechischen Mythologie stammen könnten. Die Sagengestalten sonderten betörende Klänge ab, die in die Irre und dadurch ins Verderben führen sollten. Ähnliche Verlockungen gehen auch hier von der Stimme aus. Es ist nicht zu ermitteln, ob Polly Jean ein falsches Spiel treibt oder ob sie lediglich eine erotische Annäherung anbahnen möchte. Der kryptische Text rankt sich um die Verknüpfung von Leben und Tod und hat auf den ersten Blick so gar nichts Sinnliches an sich. Wobei Psychologen neulich allerdings festgestellt haben wollen, dass uns Todesfurcht empfänglich für Erotik machen kann.
Stimmen, die sich am Rande zur Albernheit bewegen, umspannen "Autumn Term". Der gelassen groovende Blues-Verschnitt vermittelt eine Vorstellung davon, was passieren kann, wenn erwachsene Seriosität und kindliche Unbekümmertheit aufeinanderprallen.
Elvis als Referenz, erste Zuordnung: Die filigrane Ballade "Lwonesome Tonight" zitiert nicht nur einen Elvis-Song, sondern textlich auch den Slogan "Love Me Tender" des Kings. Frau Harvey lehnt sich musikalisch an die jauchzende Melancholie von "Prayer At The Gate" an. Sie tiriliert in den höchsten Tönen und mit John Parish steht ihr ein Duett-Partner zur Seite, der durch vornehme Zurückhaltung und andachtsvolle Empathie Sicherheit ausstrahlt.
Eine einsame Stimme, die im Schoße der Natur versonnen ertönt, leitet "Seem An I" ein. Der psychedelische Folk-Jazz grummelt danach mild und versprüht dabei einen unwiderstehlich weisen Charme. Energische Ausbrüche: Fehlanzeige. Dynamische Abstufungen: Kunstvoll und elegant.
"The Nether-edge" bewegt sich auf rauschhaft verschlungenen Pfaden. Durch den teils warnend-schrillen Gesang von PJ wird die nebulöse Stimmung durchbrochen und durch die seriös klingenden Abschnitte erhält der Track seine Bodenhaftung.
Eine offensive Akustik-Gitarre und verzerrte Synthesizer-Schwebetöne steuern "I Inside The Old Year Dying" durch den Sturm, während PJ Harvey bei all dieser Unruhe bestrebt ist, durch Überblick und Scharfsinn ausgleichend zu agieren.
"All Souls" klingt, als würden psychische Schmerzen zu physischen Wunden werden, die dann wie Trophäen mit Stolz getragen werden. Elektronisch erzeugte Töne drücken Aussichtslosigkeit aus und tropfen zäh wie halb geronnenes Blut zu Boden. Der Gesang kämpft tapfer gegen die Pein an und erobert sich dadurch ein Stück vom Himmel zurück.
Elvis als Referenz, zweite Zuordnung: Für "A Child's Question, August" wird abermals der Song-Titel "Love Me Tender" zitiert und als Lyrik-Vehikel ein melodischer Psychedelic-Pop gewählt, bei dem sich der Schauspieler Ben Whishaw ("My Brother Tom", 2001) als intim begleitender Gesangs-Partner auszeichnet.
Dream-Folk ist ein Etikett, das als grobe Orientierung zum Track "I Inside The Old I Dying" passt. Akustische und elektronische Töne bilden ein Gewand aus verschleierten und Takt gebenden Klängen, die sich zu einem Gespinst ergänzen, welches sich sowohl nach leichtem Rausch als auch nach betriebsamer Aktivität anhören. Das dazugehörige Video erzählt dazu "eine kurze Geschichte von Liebe, Tod und Auferstehung, die zum Rhythmus und Gefühl des Songs passt", wie die Regisseure des Kurzfilms erläutern.
Elvis als Referenz, dritte Zuordnung: Zärtlichkeit und Liebe sind Eckpfeiler jeder glücklichen Beziehung. Die Bitte "Love Me Tender" taucht wieder im Text auf und wird zu einer zentralen Aussage des Albums. Musikalisch brechen allerdings Aggressionen hervor, die sich durch knurrend-zerrende E-Gitarren bemerkbar machen. Dumpfes Trommel-Grollen erzeugt flankierend den Eindruck eines herannahenden Gewitters. Aber "August" beherbergt auch sanfte, zerbrechliche Momente, die über den Gesang und da besonders über den kurzen, fast unmerklichen Beitrag von Ben Whishaw verstärkt werden.
"A Child's Question, July" ist von einer rätselhaften Unruhe befallen. Die Taktgeber klopfen im hektischen Herzschlag-Intervall, eine Synthesizer-Tonschleife macht nervös und lang gezogene Gitarren-Feedback-Klänge laden die Luft elektrisch auf. So schnell wie sich die Panik-Attacke angekündigt hat, ist sie auch schon wieder vorbei. Das Ereignis dauerte nur drei Minuten.
Widersprüche und Gegensätze prägen "A Noiseless Noise". Das gilt inhaltlich und auch musikalisch. Ein geräuschloser Lärm ist ein schöner, poetischer Ausdruck für Stille, die hier zwar angedeutet, aber durch heftigen Lärm atomisiert wird. Soft-Rock trifft auf Noise-Rock.
"I Inside The Old Year Dying" ist das erste Song-Album nach "The Hope Six Demolition Project" von 2016 und zeichnet sich hauptsächlich dadurch aus, dass spirituelle Momente in Töne gegossen wurden. Zärtlichkeit und Sensibilität triumphieren vordergründig über Wut und Krach. Dennoch haben auch laute, missmutige Ausprägungen ihren Platz in der Musik erhalten. Nur die Prioritäten haben sich gegenüber früher umgekehrt. PJ Harvey gelingt diese innig-intensive, klang-abenteuerliche Darstellung, ohne dass sie dafür ihre Haltung ändern muss. Empathie ist bei ihr auch immer mit der dunklen Seite des Lebens verbunden, sodass erst gar keine Sentimentalitäten aufkommen können.
Laut Polly Jean sollen die Lieder aber in erster Linie einen Ruhepol, Trost und Seelenbalsam bieten und deshalb genau in diese Zeit passen. Es hört sich wie ein Klischee an, dass aus schwierigen Zeiten große Kunst entstehen kann. Die Zweifel, die PJ nach der "The Hope Six Demolition Project"-Tournee plagten, brachten jedoch nach einer Phase der Selbstreflexion die Lust und Kreativität zurück, die zu diesem originellen Neustart führten. "Ich glaube, das Album handelt von der Suche, der Intensität der ersten Liebe und der Suche nach Bedeutung...das Gefühl, das ich von der Platte bekomme, ist ein Gefühl der Liebe - es ist gefärbt von Traurigkeit und Verlust, aber es ist liebevoll", fasst PJ das Ergebnis zusammen.
"I Inside The Old Year Dying" ist inhaltlich von dem surrealistisch-poetischen Buch "Orlam", das Harvey 2022 herausbrachte, beeinflusst worden. Es wurde im Dialekt der englischen Grafschaft Dorset geschrieben, wo PJ aufwuchs und wirkt sich in seiner gelegentlichen Hinwendung zu biblischen Ableitungen und Shakespeare-Zitaten auf die Texte der Lieder aus. Außerdem gibt es in "Orlam" den ständig blutenden Soldatengeist Wyman-Elvis, der "Love Me Tender" singt. Daher stammt der Bezug in den Songs "Lwonesome Tonight", "A Child's Question, August" und "August".
PJ Harvey, John Parish, Adam "Cecil" Bartlett und Marc "Flood" Ellis haben eine Vielzahl an natürlichen und verfremdeten Geräuschen zusammengetragen, um die Songs abwechslungsreich zu gestalten. Sie wurden aber trotzdem nicht mit Tönen überladen, weil viele Effekte nur leise auftauchen. Deshalb empfiehlt sich ein Kopfhörer, um alle Einfälle wahrnehmen zu können. Ein Vorhaben, welches eine lange Zeit für unterhaltsame Beschäftigung sorgt.