Paul Armfield fragt sich: Was ist Heimat?
Paul Armfield beschäftigt sich auf "Domestic" mit einer Frage, die schon seit längere Zeit kontrovers diskutiert wird: Was ist Heimat? Ist es das private Zuhause, der Ort in dem man ansässig ist oder das Land, zu dem man sich zugehörig fühlt? Oder handelt es sich dabei einfach um ein Wohlgefühl, das nicht unbedingt geographisch zugeordnet werden muss?
Der in Birmingham geborene und auf der Isle Of Wight in Süd-Ost-England lebende Musiker berücksichtigt seit seinem ersten Album "Songs Without Words" von 2003 inhaltlich gerne das Innenleben der Menschen, ihre Gefühle, Wünsche, Neigungen und Schwächen. Aber die Zeiten sind so beunruhigend, dass es ohne die Einbeziehung von politischen und gesellschaftlichen Themen nicht mehr geht. Der Brexit, das Unvermögen von Regierenden, vernünftig für ihre Bürger zu sorgen, leere Sozialkassen, Ungleichbehandlung, Corona, Umweltzerstörung und Klimawandel sind ja schließlich Gründe genug, um schlaflose Nächte zu bekommen.
Aber nicht nur die Welt steht vor einem Umbruch, auch Pauls privates Umfeld hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Er gab seinen Buchladen auf und beendete sein Engagement in einem Kunstzentrum. Und nun sind auch noch die Kinder aus dem Haus. Das war ein schwerwiegender Einschnitt, weil dadurch ein Teil der Identität und des bisherigen Lebensinhalts wegfiel. Das brachte Denkprozesse in Gang, wobei Sinnfragen und Zielfindungs-Prozesse ausgelöst wurden. Daraus folgte unter anderem: Es war wieder Zeit, sich intensiver mit Musik zu beschäftigen.
Aus den geschilderten, vielfältigen Beweggründen ist das siebente Werk "Domestic" ein besonders wichtiges Projekt des sanften Hünen. Die zehn neuen Lieder wurden in Stuttgart mit dem italienischen Gitarristen Giulio Cantore und den deutschen Musikern Johann Polzer (Schlagzeug) und Max Braun (Bass, Produktion) intim-zurückhaltend eingespielt.
Paul Armfield hat als Solo-Künstler seinen persönlichen Ausdruck gefunden, der dem Folk verbunden ist, aber Genre-Grenzen ablehnt. Damit steht er in der Tradition von z.B. John Martyn oder Nick Drake. Er lernte aber auch von Lambchop oder den Tindersticks, wie eindringlich Musik mit wenigen Tönen sein kann. Diese Erkenntnis ist allerdings erst allmählich in ihm gereift: Der Folk-Noir-Gestalter, der jetzt über 50 Jahre alt ist, wuchs mit Musik im Spannungsfeld zwischen Frank Sinatra und Black Sabbath auf und spielte als Teenager zunächst Bass in einer Punk-Band. Nach und nach probierte er etliche Formen von Musik aus, verbrachte einige Zeit im Ostblock und kehrte dann in den 1990er Jahren in seine geografische Heimat zurück, gründete eine Familie, verkaufte Bücher, schrieb Songs und erweiterte erneut sein Musik-Verständnis.
"Domestic" stellt in gewisser Weise einen Neuanfang in der Karriere des introvertierten Engländers dar, da seine letzte Veröffentlichung "Up Here" schon aus dem Jahr 2015 stammt. Es handelt sich bei der aktuellen Platte aber auch um eine Verdichtung der Fähigkeiten von Paul Armfield, die sich paradoxerweise in einem luftig-weitläufigen Sound kristallisieren. Die Konzentration auf die wesentlichen Bestandteile zeigt sich in einem inneren Halt und einem spannungsgeladenen Ausdruck der Lieder, der auf Erfahrung, Empathie und einen in sich ruhenden Geist hinweist. Letztlich zeigen die Tracks die prägenden Wertvorstellungen des Komponisten, Sängers, Gitarristen und Bassisten.
Paul beschreibt die neuen Kompositionen als "Überlegungen zur Idee von Zuhause, dem Heimatort, der Zugehörigkeit und der Treue". Sie sind für ihn also eine besondere Herzensangelegenheit. Beim Opener "January" orientieren sich die Gitarren filigran im Raum und die Stimme nimmt vorsichtig abtastend ihre leitende Aufgabe war. Schließlich fügen sich die dadurch entstandenen dunkel schimmernden Sequenzen zu einer schlüssigen - wenn auch verschlungenen - rauschhaft-verträumten Folk-Jazz-Ballade zusammen.
Auch das später auftauchende "Nowhere" erinnert an intim-kreative Westcoast-Hippie-Folk-Experimente. Dieses karg-romantische Stück bringt eine attraktive Gitarren/Bass/Schlagzeug/Keyboard-Zusammenstellung zu Gehör, die die Sinne betört und gleichzeitig die Konzentration auf das mysteriös knisternde, fragile Geschehen lenkt. Betrachtet wird der Rückzug aus Gemeinschaften, der die Gefahr mit sich bringt, dadurch irgendwann isoliert zu sein. Was unwillkürlich an den Brexit denken lässt.
"I`m Not Here" ist die erste Single-Auskopplung und der einzige Song mit mehr als einem Wort im Titel. Es wird eine selbst gewählte Isolation geschildert, um dem Irrsinn der Gegenwart zu entgehen. Nichts hören, nichts sehen und nichts wahrnehmen, was von außen kommt, ist die Devise. Mit milder Ironie stellt Paul diese Alternative zum Umgang mit der Wirklichkeit zur Wahl. Dazu servieren die Musiker einen auf leisen Sohlen daher kommenden, unspektakulären Pop-Rock, der selbstzufrieden und genügsam erscheint.
"You" ist tatsächlich das erste Liebeslied, das Paul für seine Frau geschrieben hat. Es beschreibt unaufgeregt tief empfundene Gefühle, die zart-elegant sowie geschmeidig fließend dargeboten werden. Das ist ein Liebesbeweis, der keine großen Gesten benötigt, sondern durch Aufrichtigkeit besticht und abgeklärt-ehrlich übermittelt wird. Das Stück macht einen warmherzigen, sanft-gnädigen Eindruck und ist romantisch gefärbt, ohne allzu kitschig zu wirken.
"Home" ist das Schlüssel-Stück zur Einordnung des Heimat-Gedankens. Das Haus oder die Wohnung wird als Mikro-Kosmos des Daseins definiert. Die Musik bezieht seine meditative Wirkung aus einem beruhigenden Ablauf, wobei stützende Rhythmus-Impulse, die dem Bossa Nova entliehen sind, zugesteuert werden.
Wird ein Vogel flügge, heißt es für ihn, das Nest zu verlassen und unabhängig zu werden. Dieses Lebensgefühl wird in "Fledgling" durch Töne symbolisiert, die teils innige Verbundenheit und teils positive Aufbruchsstimmung vermitteln. Genau das, was ansteht, wenn Kinder das Elternhaus verlassen.
"Flagbearers" spaziert gemütlich-unaufgeregt im Walzer-Takt umher und versprüht eine Gelassenheit, die die Welt scheinbar in einen problemfreien Ort verwandelt. Dabei wird hier durch die Blume auf die spaltende Wirkung des Brexit hingewiesen und der Begriff der Nationalität hinterfragt.
"Wrong" unterstützt ein Denkmodell, das konträre Meinungen zulässt und diese abwägt. Paul plädiert außerdem dafür, Fehler einzugestehen und gegebenenfalls zu korrigieren. Und schon wieder kommt der Brexit in den Sinn. Bei diesem Country-Folk überlagern sich manchmal die Instrumente, es bieten sich aber auch Szenen an, in denen die Töne nebeneinander stehen. Das führt trotz der melancholischen Grundausrichtung zu einer wachen Beweglichkeit.
Bei "Heartache" wird es nochmal vielschichtig. Der Track beginnt als Jazz-Ballade mit flankierender Akustik-Gitarre. Dann setzt ein Raum füllender Gruppen-Sound ein, der einen coolen Tango/Surf/Swing-Mix erklingen lässt, der in ähnlicher Form auch von Calexico präsentiert werden könnte.
Ein Hintergrund-Orgelpfeifen-Dauerton begleitet "Alone", bei dem dämmrig und gedämpft eine schwermütige, aber scharfsinniges Klima aufgebaut wird. Die Instrumentalisten lassen Jazz-Grooves und psychedelische Spritzer erklingen und Armfield singt dazu sanft und fürsorglich. Wie ein weiser, gutmütiger Schamane, der durch die Kraft seiner Worte heilen möchte.
"Domestic" verdient es, konzentriert gehört zu werden, denn bei flüchtiger Betrachtungsweise könnten wichtige Details und musikalische Finessen überhört werden. Denn Paul Armfield macht Musik, die bei z.B. "I`m Not Here", "You" oder "Fledgling" unscheinbar empfunden werden kann. Dieser Eindruck wird dem Werk jedoch nicht gerecht, denn z.B. "January", "Nowhere", "Wrong", "Heartache" oder "Alone" geben dem Album darüber hinaus eine Ausrichtung, die den Folk weit aus seinen traditionellen Grenzen herausholt und ihm einen intellektuell-künstlerischen Anstrich verpasst.
Diese Mischung sorgt für eine Lieder-Sammlung, die trotz der überwiegend gedankenverlorenen, getragenen Stimmung nicht langweilig wird. Der vollbärtige Menschenfreund füllt die Musik als ethisch-moralischer Taktgeber mit humanistischen Prinzipien aus und vertritt in dieser Rolle den Anstand und das gute Gewissen seiner Heimat.